Glosse

Von der Schwierigkeit mit mystischen Mauern

Eine Anekdote aus L. Ceróns 10.000-Fehler-Blog — oder wie man es schafft, keinen Roman zu veröffentlichen.

  • Es war einmal ...

    ... ein Fantasy-Roman mit einer Mauer oder genauer: mit einer mystischen Mauer. Das ist ja nichts Außergewöhnliches. Denkt man. Eben so wie bei Games of Thrones. Doch wenn ein G. R. R. Martin davorsteht, dann ist das einfach. Wenn L. Cerón eine solche Mauer baut, dann tauchen ungeahnte Missverständnisse auf. So geschehen vor acht Jahren.

    Zum Buch:

    Die Völker schwarz (für Industrie) und grün (grün für Öko) sind seit Jahrhunderten verfeindet. Plötzlich geschieht etwas Mysteriöses. Das grüne Volk hat Sorge, dass das schwarze Volk etwas Ungrünes plant. Sie wollen ins schwarze Land reisen und ihre Ökofeinde kontrollieren. Damit das komplizierter und spannender ist, thront auf der Grenze eine unüberwindbare mystische Mauer. Niemand weiß, was dahinter geschieht.

    Ich schreibe ...

    ... ziemlich ausführlich, wie mysteriös das Mysteriöse ist, wie grün das grüne Volk ist und so weiter. Doch plötzlich ist nur die Mauer wichtig.

    Die Fragen:
    Warum steht da die Mauer?
    Warum kommt man da nicht hinüber?
    Kann man nicht um die Mauer herum?
    Kann man die Mauer nicht sprengen?
    Kann man hinüberklettern, darunter tauchen?
    Warum weiß man denn nicht, was dahinter ist?
    Was ist eine mystische Mauer?
    Meine Antworten:
    Da steht eine Mauer. Punkt.
    Die Protagonisten wollen da hinüber. Punkt.
    Auf der anderen Seite der Mauer wartet der Plot. Punkt.

    Aber so einfach war das nicht ...

    ... denn meine netten und bemühten Probeleser hatten viele nette Tipps, wie man die Mauerprobleme lösen könnte. Ich erklärte, dass die Mauer nicht so wichtig sei, nur Worldbuilding. Aber die Erklärung reichte nicht zum Verständnis. Halten wir zuerst kategorisch fest: Die Leser waren ratlos, weil Cerón ein schlechter Schreiberling* war, der sie nicht ins Buch führte. Doch warum? Vier Beispiele:

    Die Mauer wurde falsch beschrieben.
    Die Mauer wurde zum falschen Zeitpunkt beschrieben.
    Plot und Charaktere waren uninteressant, sodass die Mauer wichtiger war.
    Die Leser waren von anderen Eindrücken abgelenkt.

    Was tat ich, um das zu ändern?

    1. Ich habe die Mauer mehrmals umgeschrieben, anderes beschrieben. Ein neues Problem tauchte auf. Die Mauer war zwar wunderschön beschrieben und auch echt mächtig mystisch, aber der Abschnitt war lang. Zu lang. So lenkte er vom eigentlichen Text ab. Irgendwie ging es nicht mehr richtig zurück ins Kapitel.

    2. Ich habe einen Prolog vorangestellt, in dem ich die Entstehung der Mauer dreihundert Jahre zuvor erklärt habe. Ein sehr schönes Kapitel, an dem ich heute noch hänge: dichte Stimmung, gute Charaktere, mitten aus Krieg und Leben gegriffen. Prima?

    Nein! Nächste Kritik.
    Das Kapitel verschleppt die eigentliche Handlung.
    Die Mauerbauer sind doch jetzt tot. Dabei waren die so nett.
    Sucht der Protagonist jetzt die Intrige um den Mauerbau?

    3. Ich habe die mystische Mauer einfach weggelassen. Aber ist das ein Ziel einfach alles wegzulassen?

    4. Ich habe die mystische Mauer dann erklärt, als die Protagonisten davor stehen.
    Ja war das ein Zirkus! Umschreiben, neu konzipieren. In den Kapiteln vorher (das waren knapp einhundert Seiten) schrieb ich nur: ›Da ist eine mystische Mauer. Wir kommen nicht hinüber.‹ Chic generisch. Ganz besonders spannend. Ganz einmalig Fantasy. Vergessen, dass Zauberer eine ganz besonders zauberische Zaubermauer kreieren, die jeder Nicht-Zauberer sehen möchte.

    Als die Protagonisten endlich vor der Mauer stehen, ist es den Lesern längst piepegal, woher die Mauer kommt und wie die aussieht. Alle wollen nur hinüber. Fakt: Wenn man eine mystische Mauer nicht sieht und überliest, dann kann ich einfach Mörtel nehmen und mauern. Ziegelmauer. Mauerziegel.

    Fazit.

    In der Retrospektive sage ich: Es war gar nicht die Mauer, die den Probelesern nicht gefallen hat. Ihnen gefiel etwas ganz Anderes nicht. Aber das wussten sie nicht oder wollten es nicht sagen. Also nahmen sie den ersten Aufhänger, den sie fanden: die mystische Mauer. Und das wusste ich nicht. Stattdessen habe ich im Text herumgestochert, wie jemand, der Heliumballons vom Himmel picksen möchte, bevor sie aufsteigen.

    ***

    © L.C., 2.11.22.
    L. Cerón schreibt Abenteuerromane über Palastrevolutionen und Underdogs, stets mit einem Bezug zu Ökologie und Umweltschutz.

    Disclaimer: Diese Glosse bezieht sich auf ein Frühwerk des Titanwelten-Zyklus etwa 2014/2015. Der Roman befindet sich in Bearbeitung und soll veröffentlicht werden, daher sind einige Inhalte so dargestellt, dass sie nicht zu viel von der neuen Handlung verraten.

    Fußnote:

    *Schrei|ber|ling, der; -s, -e (abwertend): Autor[in], der bzw. die schlecht [u. viel] schreibt. Quelle: © Duden — Deutsches Universalwörterbuch, 6. Aufl. Mannheim 2006 [CD-ROM].
    Ich weise explizit auf die Erklärung des Wortes ›Schreiberling‹ hin, da ich den Eindruck vermeiden möchte, ein generisches Maskulinum benutzt zu haben. Sollte es mir doch einmal geschehen, so mag man mich gerne zurechtweisen. L.C., 2.11.22