Eine Anekdote

Wenn plötzlich ein Teegedeck auf dem Boden steht

Da fand eine Probeleserin, dass mein Geschirr auf dem Boden stünde, und dass ich ganz unbedingt erklären müsse, dass es auf einem Tisch stünde und dass drumherum noch viel mehr stünde. Yo, dachte ich, sie hat eigentlich Recht. Welche schönen Dinge ich alle beschreiben kann. Und dann hörte ich nicht mehr auf, bis das Buch platzte.
Eine Glosse aus L. Ceróns 10.000-Fehler-Blog oder wie man es schafft, keinen Roman zu veröffentlichen.

Bibliographische Angabe

Autor: Umberto Eco

Titel: Im Wald der Fiktionen

Verlag: Deutscher Taschenbuch Verlag

Erschienen: 3. Auflage 2004

Eine Teezeremonie einmal anders

Wir befinden uns acht Jahre zuvor. Ich, Cerón, schreibe an meinem ersten Fantasy-Roman. Das Genre ist für mich blitznagelfunkelnagelneu und aufregend anders. Wir hatten den Revolutionär mit den smaragdgrünen ... pardon ... visionären Augen. Nun sind wir in einer Gegenwelt, einem lockeren Naturstaat. Es ist ein Paradies, in dem wir alle gerne leben: Nachhaltigkeit pur, Tierschutz pur, alles Öko eben. Doch plötzlich geschieht etwas. Die Ökowelt gerät in Unordnung. Eine Krisensitzung muss her!

Wer mit wem und wo?

Nehmen wir einen Einsatzleiter, 55 Jahre und einen jungen Kommandeur, gut 30 Jahre. Beide gehören einer Art Greenpeace an. Heißt: Gibt flache Hierarchien. Der junge Mann soll ein Team um sich sammeln und pro Öko kämpfen. Sie treffen sich, weil es ja Öko ist, nicht in einem sterilen Büro, sondern auf einer Terrasse im Regenwald. Um das lockere Verhältnis zu dokumentieren, habe ich ein Teegedeck dazu gezaubert. Es sieht bunt aus, Öko eben, ein Regenwaldtier darauf gemalt. Das war mir an der Szene wichtig. Setting, Stimmung, Öko. Hey, Leute, hier gibt es keine Kotaus* vor eurem Chef. Ihr entscheidet alles frei, kreativ, fluffig. Soweit so gut. Es stand so ungefähr geschrieben:

Sie treffen sich auf der Terrasse hinter dem Pilzhaus. Ein Teegedeck mit einem handgemalten Tukanmotiv wartet. Der Einsatzleiter schenkt seinem Kommandeur ein und fragt: »Wie gehen wir vor? Hast du schon eine Idee für ein Team?«

Ich präsentiere das Kapitel ...

... nichtsahnend einer Probeleserin. Prompt hagelt Kritik. So wie sie die Szene läse, stünde das Gedeck auf dem Boden. Ich müsste schon erklären, dass das Gedeck auf dem Tisch stünde und wie es drumherum aussähe. Damit man ein Gefühl für die Szene bekäme. AHA!

Gut, dachte ich. Stellen wir Rattanstühle dazu, einen Rattantisch auch, das ganze unter einer Pergola. Dann stand da, so ungefähr:

Sie treffen sich auf der Terrasse hinter dem Pilzhaus. Es wirkte romantisch. Unter der blühenden Pergola stand zwei Rattansessel und ein Rattantisch mit einer Glasplatte, darauf ein handgemaltes Teegedeck mit einem Tukanmotiv. Die Farben glichen dem Regenwald ringsum, und der Tukanschnabel wirkte so lebensecht, so als würde er gleich picken.
Der Mentor grüßte freundlich. Als sich der Kommandeur gesetzt hatte, schüttete er ihm Wayusa-Tee ein, den kleinen Finger edel abgespreizt. Es war Spezialtee vom Volk der Tapayoa, die den Regenwald besiedelten, leicht koffeinhaltig und ziemlich aromatisch.
Dann wandte er sich ihm zu und fragte: »Wie gehen wir vor? Hast du schon eine Idee für ein Team?«

Oooooooops!

Wann steigen Sie aus dem Text aus?

1. Das Kapitel ist eine halbe Seite länger.
2. Wir achten nicht mehr auf das handgemalte Teegedeck. Weil es nur noch ein x-beliebiger Gegenstand in der Umgebung ist, ebenso wichtig wie Stuhl, Tisch, Pergola.
3. Wir vergessen, dass wir in einer eiligen Krisenbesprechung sind, denn die Umgebung ist plötzlich wichtiger.
4. Uns ist es auch egal, dass da zwei außerirdische Greenpeace-WWF-Sea-Shepherd Leute sitzen.
5. Dass es flache Hierarchien gibt, ist in diesem Kuddelmuddel schlicht egal geworden.
6. Wir haben eine Wohnzimmer-Stimmung geschaffen.
7. Überall ist irgendetwas, der Leser wird orientierungslos.

Habe ich als Autor gewonnen? Nein! Verloren!

Die Korrespondentin war ganz motiviert und engagiert. Aber sie ging subjektiv vor. Sie sah nicht, welche Fehler im Text wirklich lagen (dazu komme ich später). Womöglich mochte sie auch kein buntes Geschirr, keine Gartenterrasse im Regenwald oder dergleichen. Möglicherweise hatte sie auch noch nie Umberto Eco: Im Wald der Fiktionen gelesen.

Der Herr Eco hat sein Taschenbuch der Frage gewidmet, was man nun beschreibt und wann es zu viel ist. Wunderschön beschrieben übrigens anhand einer Pferdekutsche. Ich zitiere mal lose aus der Erinnerung. Wie wirkt der Text, wenn da steht:
1. Er steigt in die Kutsche und fährt weg.
(Der Leser stellt beim Lesen die Pferde automatisch dazu.)
2. Er steigt in die Kutsche. Vier Pferde sind davor gespannt. Sie sind schwarz. Er fährt weg.
(Jetzt sind die Pferde wichtig.)
3. Er steigt in die Kutsche. Vier schwarze Pferde sind davor gespannt. Sie scheuen vor einem Blatt im Herbstwind. Er fährt weg.
(Eigentlich fahren wir nicht mehr weg, sondern wir schauen uns um: Kutsche, Pferde, Wind, Blatt.)

Was wollen wir denn anfangs beschreiben? Ja, was?

Tipp: Unbedingt Im Wald der Fiktionen lesen!

Was dann geschah

Ich Hornochse ... Weg mit dem Schimpfwort! Der arme Bulle. Wird kastriert, damit er williger schuftet. Damit er zu abgestumpft ist, um auf Brautschau zu gehen. Hauptsache, wir können ihn nachher essen. Was fällt uns Menschen ein, über den Körper und die Seele von Tieren zu entscheiden. Zu bestimmen, dass ein Lebewesen wie ein Baum an der falschen Stelle wurzelt. Er kann sich nicht wehren und wird abgeholzt, abgefackelt!
Es gibt übrigens auch keine Dreckspatzen und Schmutzfinken ...
... nur neugierige Kühe.
... und nur nette Schweinchen.

Weiter!

Ich Plastikschädel sah ebenfalls nicht die Fehler in diesem Kapitel. Ich hatte das Buch von Umberto Eco damals zwar gelesen, aber nicht wirklich für mich verstanden. Ganz im Rausch des neuen Fantasy-Feelings beschrieb ich prompt alles im Buch, was man nur beschreiben konnte. Noch viel mehr war plötzlich nicht klar. Wie ein Ökostaat funktioniert ... dass man die Teammitglieder vielleicht einzeln vorstellen sollte ... und so weiter. Plötzlich war das Buch fünfzig Prozent länger.

Nächste Kritik einer anderen Probeleserin: Sie schreiben sehr langweilig und zäh. Bei ihnen passiert ja nichts. AHA!

Jetzt alles wieder kürzen? Ist doch alles so schön geschrieben? Oh, Malz!
Vielleicht doch nicht alles kürzen? Aber was? Aber stopp! Ist es überhaupt das Buch, das ich schreiben wollte?

Jetzt kommt meine Lösung!

Es war gar nicht das Teegedeck. Oder die fehlenden Beschreibungen. Es war die Struktur. Aber es war nicht die Struktur in diesem Kapitel. Vielmehr war das Kapitel kein erstes Kapitel, sondern ein catalyst. Ich hätte das zum Beispiel so machen müssen:

1. Kapitel:

Sternzeit 4027. Wir leben in einem Ökostaat mit vielen Wäldern und freundlichen Menschen, darunter der nette Einsatzleiter und der nette Kommandeur. Sie haben ein ganz lockeres Verhältnis zueinander und setzen sich für Umweltfrieden ein.

Einige Kapitel oder Seiten später:

Plötzlich geschieht etwas ganz Finsteres. Der Einsatzleiter und der Kommandeur treffen sich zur eiligen Krisensitzung in Regenwald-City. Der handgemalte Tukanschnabel auf dem Teegedeck wirkte so spitz wie die Bedrohung ...

Jetzt müssen wir nicht alles auf einmal erklären. Öko. Greenpeace auf dem Saturn, Regenwald, Teegedeck und Krisensitzung. Das kann ein erstes Kapitel nicht leisten. Das Teegedeck war nicht schuldig.

Fazit

Stellen Sie Ihr Geschirr wieder auf den Boden! Der Leser bastelt sich seinen Tisch und sein Ambiente vor seinem geistigen Auge alleine dazu. Der Leser macht das sogar viel schöner als Sie, denn er nimmt nur Dinge, die ihm selbst gut gefallen. Aber erzählen Sie dem Leser vorher, wo sie sich befinden, das heizt Spannung und Stimmung ganz alleine an. Das ist gute Literatur, finde ich, wenn ich so durch den Wald der Fiktionen wandle.

***

Fußnote:

*Ko|tau, der; -s, -s [chin. k'o-t'ou, eigtl. = Schlagen mit dem Kopf]: (in China früher im Kultus od. vor Respektspersonen übliche) in kniender Haltung ausgeführte tiefe Verbeugung, bei der der Kopf den Boden berührte:
* [vor jmdm.] einen/seinen K. machen (bildungsspr.; sich unterwürfig-demütig jmdm. gegenüber verhalten). © Duden — Deutsches Universalwörterbuch, 6. Aufl. Mannheim 2006 [CD-ROM].

©L.C./22.8.22/L. Cerón schreibt Abenteuer-Romane über Underdogs und Palastrevolutionen, stets mit einem Bezug zu Ökologie und Umweltschutz.

Disclaimer: Die hier vorgestellten Bücher sollen meinen Text untermauern. Sie sind also nur Werbung in eigener Sache. Ich erhalte keine Provisionen oder bin sonst wie mit den Verlagen oder den Autoren vernetzt. Vorsichtshalber möchte ich Sie darauf hinweisen, bevor ein falsches Bild entsteht. Danke. L. Cerón.