L. Cerón plaudert über die vier A’s: Alltägliches, Ärgernisse und Außergewöhnliches im Alltag (dem literarischen Alltag).
Hier und heute lässt Cerón Dampf ab über einen Leser meiner Kurzgeschichte Der Flüsterwald. Dieser Leser hat eine sehr simple Straßenszene partout missverstehen wollen und sieht darin eine faustische Weltverschwörung des Bösen oder mehr noch: ein misantropisches Weltbild meiner Wenigkeit. Vom psychosozialen Standpunkt aus, finde ich seine Anschauung bemerkenswert skurril - auch zum Thema Echokammer - daher mache ich sie zum Thema eines neuen Essays. Er soll auch denen Mut machen, die sich ebenfalls über einen Verriss ihrer Texte wundern, der aus den Wolken kommt, der eifrig nachgeplappert wird wie eine Glücksformel.
Also
Meine Kurzgeschichte Der Flüsterwald, einen Leser - also selbsternannten Rezensenten - und eine Szene in einem Dorf von Entzeitlern.
Zwei Forscher schreiten durch eine postapokalyptische Algenwelt auf der Suche nach neuem Festland, vor allem aber weil sie sich erhoffen, neue Nahrung zu finden. Sie gelangen in ein Dorf mit Entzeitlern, die auf dem Algenteppich leben. Die beiden Forscher werden misstrauisch empfangen, schließlich sind sie Fremde und kommen von weit her. Noch dazu ist die Welt quasi untergegangen, vogelfrei, rechtlos. Werden sie womöglich bestohlen, bevor sie weiterziehen? Schließlich geht es um die Entzeitler ums Überleben ...
Als überzeugte Pazifistin schreibe ich natürlich nicht, wie sich beide Parteien gegenseitig ermorden. Also ziehen meine beiden Forscher weiter, bis ... ja, spoilern werde ich nicht ...
war dieser Teil - der mit den Dorfbewohnern - einem Leser zu kompliziert - oder nicht kompliziert genug. Vielleicht auch nicht brutal genug, weil er sich wohl erhoffte, dass es zu einem martialischen Kampf kam. (Anm.: Brutalere Geschichten fand er offensichtlich gut, weil einsichtig.) Meine Endzeitler wären ihm also sympathischer gewesen, wenn sie nicht geredet und gedroht, sondern getötet hätten? Offensichtlich! Aber so als "Redende, Drohende" wirkten sie "nur" wie ein abschreckendes Bild der Menschheit und standen für Gier, Egoismus und so Allerlei. Merke: Nicht reden, sondern töten. Dann ist es Science-Fiction und ein Zeichen von Moral.
Nun kann man auch hineininterpretieren, dass der Leser die Geschichte nicht verstanden hat. Aber das zu begründen fällt mir sehr schwer, denn da gibt es rein gar nichts nicht zu verstehen. So glaube ich, dass der Leser einfach von sich (oder seinen Bekannten) auf andere geschlossen hat, dass er etwas sehr Skurriles in der Szene sieht, weil er selbst so denkt. Aber wie kommt man dazu, so etwas Abstraktes zu denken? Das finde ich wieder sehr bedrohlich.
Rein faktisch würde ich dem Leser empfehlen, einmal mitten im Krieg (oder Weltuntergang) ins Ausland zu fahren und als Fremder in ein stilles Dörfchen zu gehen. Und dann rennen alle auf ihn zu und umarmen ihn und sprechen von Völkerverständigung. Da sage ich mal, das klingt schön, aber nur begrenzt realistisch.
Sehen wir eine solche Äußerung oder Einstellung mal nicht in einer Demokratie mit Meinungsfreiheit. Ziehen wir dem Leser eine martialische Uniform an und stellen ihn in einer Diktatur auf. So, jetzt sage ich etwas. Er versteht das nicht. Er macht sich seine eigene Welt - zu mir. Da er Macht hat, bleibt es nicht bei einem verbalen Angriff, sondern es kommt zu einem Fenstersturz. Das begründet er nicht einmal, weil er ja ohnehin Recht hat. Baff.
Ein Bekannter von mir nannte das Trigger.
Der Leser hatte, bekam etc. einen Trigger. Fühlte sich selbst degradiert ... die Menschheit beschmutzt ...
Aber DAS steht nicht im Text.
DAS hat er sich dazu erfunden.
Das hat auch die Verlegerin bestätigt und die kennt sich sicher besser aus als er.
Das haben auch einige Bekannten gefunden, dass er das erfunden hat
Aber was liest er sonst, dass er so etwas erfindet?
Wie kommt man zu einem solchen Trigger?
Was ich empfehle?
Einen Blick in Dostojewki (ich glaube "Der Idiot". Aber da möchte ich mich nicht festlegen und nachschauen jetzt gerade auch nicht.) Also in dem Buch schlägt ein Straßenmob, der sich wegen nichts aufheizt, plötzlich das Pferd von einem Fuhrkutscher tot und der Fuhrkutscher schlägt mit. Eine gruselige Szene, die mir unter die Haut ging, die mir den Dostojewkski damals echt verlitt. Außerdem empfehle ich eine Kurzgeschichte von Paolo Bacigalupi, in der - kurz gesagt - Naturschützer einen Hund aufessen, damit es ihm besser geht. Ziemlich glaubhaft geschrieben, bleibt auch hängen.
Aber ich hatte da noch eine Idee, warum sich der Hass-Rezensent auf den Schlips getreten fühlte. Da hätten wir den Naturschutz.
Naturschutz, fragen sie
Naturschutz, antworte ich.
Womöglich hat mein Feind-Rezensent aus dem Lebenslauf geschlossen, ich könnte Naturschützer sein. Und "die verachten jeden Bürger ja kategorisch". Aber wie sehe ich ihn vor mir? Wie einer, der als Autofahrer Straßendemonstranten zusammentritt? Wie einer, der mit der Nagelfeile an einem Rosenstock sägt, weil dieser 0,3 Zentimeter zu lang für die Norm ist. Oder vielleicht einer, der es toll findet, wenn wir den Walen mal so richtig zeigen, wer hier das Recht hat zu regulieren? Ja, lieber Trigger-Leser, es gibt auch andere, menschenfeindliche Worte wie: "Der Pudding schmeckt heute fade." Oder nicht?
Merkwürdige Bilder werden in deinen Worten bei mir wach, lieber Trigger-Leser. Ja, meine Dorfbewohner, die Entzeitler, sollten die Forscher gleich töten. Man sieht ja, was passiert, wenn man solche leben lässt, mit solchen redet, die da von draußen kommen. Oder wie war das? Sollten die Forscher die Dorfbewohner töten ...?
Ansonsten empfehle ich zur Aufklärung Mad Max oder andere Endzeitszenarien. Ich würde es auch mal mit einem Poesie-Album versuchen. Papier ist geduldig. Nur nicht laut reden. Die Welt würde besser sein. Garantiert.
Allen anderen empfehle ich einen Blick ins Buch Biokalypse
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©L.C./03.01.24/L. Cerón schreibt Abenteuer-Romane über Underdogs und Palastrevolutionen, stets mit einem Bezug zu Ökologie und Umweltschutz.