Studio Eskamotage → L. Cerón → Mariañaca-Saga → Shoot the Freak → Auf dem Dach der Wahrheit
Die Freiheit, die ich meine. Mit allen Konsequenzen. Was tust du, wenn du das verlierst, wofür du gekämpft hast? Genau! Trotz: jetzt erst recht. Irgendwie. Und dann verlierst du noch mehr.
Shoot the Freak erscheint in einer überarbeiteten 3. Auflage (demnächst).
Edition 2015, 510 Seiten
ISBN-13: 978-1507815052
ISBN-10: 1507815050
Der Protagonist Neal hat die Schule geschmissen und ist mit seinen Freunden aus dem Juvie ausgebrochen - nicht ohne es zu zertrümmern. Die Polizei jagt sie. Sie fliehen nach New York. In Red Hook finden sie eine heruntergekommene Bleibe, in der sie illegal unterkommen.
SHOOT THE FREAK
LIVE HUMAN TARGET
Neal blieb stehen und schaute sich das Graffito an. Shoot the Freak: eine blau-schwarze überlebensgroße Schrift. Darunter in gelb: Live Human Target, ebenso groß. Das Graffito prangte auf einer rostigen Metallwand am Ende eines Ruinengrundstückes. Rechts und links waren meterhohe Mauern von Ziegelhallen, ebenfalls voller Graffiti. Auf dem Grundstück Gerümpel, Zäune, Tonnen, Betonreste. Irgendjemand hatte Kegel und skurrile Steinköpfe auf eine Mauer gestellt. Es schien, dass man hier Shoot the Freak1 von Coney Island nachspielte — offensichtlich mit neongrünen Plastikkeulen, wie sie die Kinder haben. Durch die Baulücke über der Metallwand sah man auf Abbruchhäuser und Hallen. Ein typisch morbides Bild einer Stadtruine — wenn nicht die bunten Graffiti gewesen wären.
Neal las das Graffito noch einmal.
SHOOT THE FREAK
LIVE HUMAN TARGET
Yo! So fühle ich mich auch. Und wie ich mich so fühle! — Was hat der Sprayer wohl gedacht. Das gleiche wie ich? Vielleicht das gleiche wie ich. Nur kann ich nicht sprühen. Nicht die Bohne Talent dafür.
Neal spazierte weiter die tristen Straßen entlang. Er war in Red Hook, einem Viertel von New York. Es war ein trüber Tag. Kühl. Leicht windig. Typische Bilder einer Großstadt zogen an ihm vorbei. Ein alter Mann auf einer Bank, der Tauben fütterte. Eine Frau mit vier Kindern, die völlig abgehetzt wirkte. Ein Autoschrottplatz mit Eisenteilen, Autos auf der linken Seite, Ersatzteile auf der rechten Seite, zwei Etagen hoch gestapelt. Ein Obdachloser an einer Straßenecke: Koffer, Decke, Schlafsack, er selbst tief in dem schmutzigen Schlafsack verschwunden; er bewegte sich nicht einmal.
Wo bin ich überhaupt im Moment?
Neal trat auf einen Platz, der von zwei hohen, massiven Steinmauern begrenzt war. Beide waren voller Graffiti. Höhe: etwa acht Fuß. Er nahm Anlauf und kletterte an der Seite hoch, dort, wo die Mauer brüchig war. Dann stellte er sich auf die Kante und ließ seine Blicke schweifen. Yo! Hier bin ich und dort möchte ich hin. Gut!
Er sprang die Mauer wieder herab und schritt weiter. Erkundungstour. Sich mit der Stadt, sich mit dem Viertel anfreunden. Hier ist New York. Hier ist Red Hook. Ich bin nicht mehr zu Besuch, ich wohne hier! Ein fremder Gedanke und irgendwo auch wieder vertraut. Oder nicht?
Es war das erste Mal seit Wochen, dass Neal alleine war und ein wenig Zeit hatte, überhaupt Zeit hatte. Das Erziehungsheim, die Flucht, wieder das Erziehungsheim, die große Flucht ... Immer hatte es etwas zu organisieren gegeben, immer galt es irgendwo anzukommen. Jetzt war er angekommen. In Red Hook, einem Stadtteil von New York. Neal Yoan Quin Chichitzeca. Red Hook, New York. Yeah! Ich habe es geschafft.
Neal schritt an einem halbzerfallenen Bauzaun vorbei. Eine kahle Birke fristete ihr kümmerliches Dasein. Direkt gegenüber ein dicker Hochspannungsmast. Dahinter ragte ein fünfgeschossiges riesiges Backsteingebäude auf. Logo ›VAN BRUNT STORE‹. Abgebröckelter Schriftzug. Halbrunde große Fenster, halbrunde große Eingangstüren aus Holz, graublau angestrichen.
Echt interessant. Kenne ich gar nicht solch Architektur.
Noch dahinter erstreckte sich ein Hafenkai. Eigentlich waren nur Steine am abschüssigen Ufer aufgeschüttet. Dazwischen Schrott und Gerümpel, wie überall illegal entsorgt.
Neal setzte sich zwischen den Müll. Dafür hatte er eine wunderbare Aussicht auf die Freiheitsstatue. Ein rotes riesiges Schiff fuhr in einiger Entfernung vorbei. Er schaute ihm nach, bis es verschwunden war. Zwischendurch warf er immer wieder ein Blick auf die Freiheitsstatue.
Ja! Freiheit. Ich habe sie. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich bin vogelfrei! Und frei zum Abschuss, denn ich habe keine Rechte mehr. Nicht als entlaufener Sträfling. Das bin ich doch. Ein Dieb, ein Lügner, ein Drogenkonsument, einer der Randale macht. Ja! Das bin ich. Jemanden, den man wegsperren muss, weil er eine Gefahr für die Gesellschaft ist. Das ist es doch. Alles andere ist Selbstbetrug. Hört alle her: Ich bin nicht der Schulsprecher, der Jura studieren wollte, ich bin der Typ aus dem Erziehungsheim, also aus dem Knast, weil er gefährlich ist. F**ck! Wie fühle ich mich? F**CK! Gar nicht aufregend, eher F**CK!!!
Neal atmete tief durch, doch er konnte sich nicht sammeln, so sehr regte er sich auf.
WARUM habe ich das alles gemacht? WAS habe ich davon? Dass ich hier sitze? Das ist alles. Mehr nicht. Und ich habe nicht mal mehr meine Freiheit. Ich bin ein Sklave. Meiner Einstellung, die mich in eine Sackgasse getrieben hat ... aus der es kein Ausweg gibt. Und: Ich bin der Sklave meiner Clique, denn ohne sie kann ich nicht leben. Oder wie will ich das? Mit knapp sechzehn jobben? Wo? Wem soll ich meine Papiere zeigen, wenn ich polizeilich gesucht werde?
Er atmete tief durch. JA! Ich werde polizeilich gesucht. Ich bin ein Schurke. Ich werde nicht regulär arbeiten gehen können, also werde ich stehlen und rauben. Noch mehr Schurke. Ich werde überhaupt gar nichts Legales mehr machen können, denn ich bin völlig illegal. Wie will ich auch nur irgendjemanden davon überzeugen, dass ich vernünftig bin, wenn ich so lebe? Und überhaupt! Ohne meine Freaks kann ich nicht überleben, wenn ich mich nicht beim Vision’s Camp melde. Und dort lassen sie mich NIE heraus. Nicht nachdem was ich gemacht habe.
ONE WAY STREET
SHOOT THE FREAK
LIVE HUMAN TARGET
Neal fühlte sich leer und elend, während er über das Wasser auf die Freiheitsstatue schaute. Ich habe alles mit offenen Händen weggeworfen. Alle Chancen die ich hatte. Zeugt das von Charakter und Durchsetzungsvermögen? Nein! Ich bin eine Niete. Ich hätte Charakter gehabt, wenn ich meinen Weg gegangen wäre und Durchsetzungsvermögen gehabt, wenn ich mich meinen Problemen gestellt hätte.
Neal atmete tief durch. Er nahm sich eine Handvoll Steine in die Hand und warf den ersten sacht ins Wasser.
ICH hätte zum Jugendamt gehen sollen.
Er warf den zweiten Stein sacht ins Wasser.
ICH hätte ihnen sagen sollen: Mein Vater und ich, wir vertragen uns nicht. Ich will in eine Pflegefamilie.
Er warf den dritten Stein sacht ins Wasser.
Aber was mache ich? Mein Alter hat schon recht. Sie fangen mich ein wie ein wildes Tier und degradieren mich nicht zu jemanden, der passiv ist!
Den nächsten Stein warf er wütend in Wasser. Er atmete noch einmal tief durch.
Mit dem MAN etwas tut.
Der nächste Stein fliegt noch kräftiger ins Wasser.
Der danke und bitte sagt.
Noch ein kräftiger Wurf. Es machte Platsch!
Ich bin gar nicht weitergekommen. Ich bin noch genau derselbe Idiot, der schon nach der Pfeife von meinem Alten getanzt ist.
Die letzten Steine flogen mit einem Riesenschwung ins Wasser.
Ich bin die gleiche Niete wie mein Alter, nur anders, denn ich werde NICHTS, rein gar nichts erreichen.
Neal wollte sofort weg. Er stand wütend auf und trat mit dem Fuß gegen ein herumliegendes Metallblech. Es schepperte laut. Dann drehte er sich um und ging weg. Vorbei an einem Hafenbecken mit einem rostigen Steg. Vorbei an Backsteinwänden mit großen Graffiti. Vorbei an einem weißen, völlig verfallenen Fabrikgebäude, das direkt ans Wasser gebaut war.
Er spürte, dass er auf einmal doch keine Lust mehr hatte irgendwohin zu laufen. So setzte er sich prompt wieder hin. Diesmal auf einen völlig kaputten Holzsteg direkt am Wasser vor ein Backsteingebäude. Was mache ich jetzt? Ich bin doch erledigt. Ich bin so was von erledigt. Hänge ich den ganzen Tag herum? Kiffen, trinken, klauen? Nein? Ja! Was soll ich denn sonst tun? Keine Aufgaben, keine Ziele. Na prima. Mir wird ja jetzt schon langweilig.
Der Holzsteg knackte ganz fürchterlich. Neal hatte Angst, er würde zusammenbrechen und ins kalte Wasser stürzen — und er mit. So stand er auf und ging wieder weiter. Vorbei an weiteren Backsteingebäuden, Hafenanlagen, Kais, heruntergekommenen Wohnhäusern.
Er betrat einen Steg aus übereinandergelegten Metallplatten. Die Platten waren unendlich rostig und lagen auf einem wackeligen Holzkonstrukt. Sie knarrten und wackelten bei jedem Schritt. Er machte sich einen Spaß daraus, auf ihnen zu balancieren, hier und da heftiger zu wippen, damit das Konstrukt taumelte.
Kleine Boote waren dort angebunden. Am anderen Ende der Bucht ragte ein großes Backsteingebäude auf. Ein großes Schild davor: BUILD TO SUIT. Dahinter Kräne. Wellblechhütten. Die Silhouette der Stadt: Das Empire State Building.
BUILD TO SUIT
Ja. Und was ist, wenn man es nicht ist? BUILD TO BE UNSUITABLE! BUILD TO BE USELESS. BUILD TO BE SUPERFLUOUS. So wie ich? Was macht man dann? Springt man in das kalte Wasser und wartet man, bis man tot ist?
»Was machst du da? Hau ab da!«, brüllte ein Hafenarbeiter wütend herüber.
Neal schaute ihn nur kühl an.
»F**ck yourself, f**cking dickwad!«, brüllte er zurück und zeigte ihm einen wütenden Mittelfinger.
Neal wanderte den Steg zurück und die Straße entlang. Ein hoher Holzzaun begleitete ihn zur Linken. Darauf waren rosa Wölfe und andere Tiere gemal. Neal kickte einen Stein vor sich her. Ich werde mich ruhig verhalten ... zwei Jahre in der stillen Versenkung leben. Nur das stehlen, was wichtig ist ... nur dort sein, wo es sicher ist. Dann: zurück zur Schule. Abschluss. Studium. Ja! Ich muss nur vorsichtig sein. Ich bin ja nicht straffällig geworden, ich war eben nur wild. Sie konnten mir nichts, gar nichts nachweisen. Nur Verdächtigungen. Ich bin völlig unbescholten ...
Drei Straßenjungs kamen ihm entgegen. Sie waren älter, zwanzig wohl. Jeans, T-Shirt. Neal musterte sie in einem Augenwinkel, weil ihm ihre lauernden Schritte nicht gefielen. Was sollen sie schon von mir wollen? Ich habe nichts.
»Knete raus«, zischte einer.
Neal schaute ihn nur kühl an.
»F’off!« knurrte er zurück.
Doch sie kamen näher und umringten ihn. Er zog sein Springmesser aus der Tasche und ließ es aufschnappen.
»F’off«, fauchte er sie grollend an.
Sie bedrohten ihn zu dritt, wenn auch mit Abstand. Das Messer in der linken Hand, griff Neal mit der rechten eine Stange vom Straßenrand. Er schlug um sich und verletzte die Angreifer. Sie flohen. Dann ging er die Straße weiter als ob nichts gewesen wäre. Das war doch schon mal der richtige Ansatz für ein friedliches Leben in der friedlichen Gesellschaft, Neal Yoan Quin Chichitzeca. Praktische Konfliktlösung. Ich bin ein IDIOT! Das wird nie etwas mit meinen Plänen.
***
Nanstroke Factory
Als Neal endlich in die NAF zurückkam — so nannten sie den Komplex der Nanstroke Factory — war es schon dunkel. Vorbei am Schild
›Rocky’s Star Room‹,
einer billigen Spielhalle, schlenderte er durch die Einfahrt in die Werksstraße der Fabrik. Es war eine kleine, ehemalige Keksfabrik vom Ende des vergangenen Jahrhunderts. Rauchig dunkle Gebäude säumten die Straße. Autos parkten entlang der Häuserreihen. Die Häuser waren dreigeschossig, die Eingänge schmal. Fenster und Türen waren aus Milchglaskassetten, wie es damals chic gewesen war. Doch meisten Scheiben waren ausgeschlagen, die Jalousien zu den Ex-Werkshallen zugezogen. Kleinindustrie hatte sich breit gemacht: eine Autowerkstatt mit einer Bühne, eine Bäckerei, Proberäume, eine Druckerei. Die meisten Gebäudeteile standen leer. Ein hoher, massiver Schornstein ragte unübersehbar am Ende der Straße auf.
Zu ihrem Trakt, dem ersten Gebäude hinter der Hauptstraße, gab es keine Eingangstür, sondern nur einen Bretterverschlag ohne Klinke, den man einfach mit dem Fuß auftreten konnte. Es gab auch kein echtes Licht, nur eine flackernde Neonröhre, die eher aus als an war. Unten links war eine kleine Lagerhalle, aus der es süßsauer roch. So wie chinesische Pilze. Zwei Toiletten unter der Treppe. Neal rümpfte seine Nase. Die Toiletten riechen scharf. Und wie ich mich davor ekle. Sie wurden noch nie geputzt und sie werden auch nie geputzt werden.
Oben, auf ihrer Etage gab es jedoch keine Toiletten, keine Dusche, kein Nichts, nur ein Waschbecken im Flur. Ihr Wohnraum war eine Werkshalle mit einer Verbindungstür zu einer zweiten Werkshalle. Höhe: Dreizehn Fuß. Metalltüren. Je ein Fenster zeigte zur Hauptstraße. Dem gegenüber waren vier Oberlichter. Eigentlich schön. Der Charme alter Fabriken. Doch zum Wohnen? Es regnete durch die Oberlichter herein, außerdem pfiff der Wind laut durch die Ritzen neben den Fenstern. Es gab auch keine Heizung, nur einen gestohlenen Kohleofen, der in der Mitte der Halle stand. Dessen Ofenrohr ragte quer durch die Halle und durch ein ausgeschlagenes Fenster heraus. Das Loch war mit Metall und Pappe notdürftig abgedichtet. Dass mit dem langen Ofenrohr war Absicht. Es sollte mehr Wärme bringen, hieß es. Der Boden war gekachelt. Schwarz-weißes Schachbrettmuster. Typisch Fabrik eben.
Mit Grauen dachte Neal daran zurück, als er die Halle einen Tag zuvor betreten hatte. Jetzt fühlte er sich nicht anders. Diese sch... Halle ist kalt ... die wird in wenigen Wochen unerträglich kalt werden. Nein, es wird nicht besser werden. Gar nichts wird besser werden. Ganz bestimmt nicht. Wie auch. Vielleicht sollte ich mich doch stellen. Bleibe ich eben im Juvie. Gehe ich unter, aber wenigstens anders.
Ruckartig öffnete er die Tür.
»Yo! Wo bleibst du denn, Alter«, grölte Jalen lautstark.
»Geht dich einen Sch... an«, fauchte Neal und hasste Jalen plötzlich.
»Wir warten schon auf dich«, sagte Rafe. »Wir wollten ins Travy. Kommst du mit?«
»Nein! Ich komme nicht mit. Ich komme nirgendwo mehr mit«, grollte Neal und hockte sich irgendwo auf den Boden.
»Dann nicht«, sagte Rafe gelangweilt.
Er machte den anderen ein Zeichen, dass sie gehen würden. Als Neal das sah, stand er prompt vom Boden auf.
»Ich komme doch mit«, sagte Neal. »Keine schlechte Idee.«
Nein! Alleine bleiben wollte er auch nicht.
***
Red Hook
Sie gingen zu Fuß in Richtung Innenstadt. Niyol beobachtete Neal argwöhnisch von der Seite, weil der noch immer schlecht gelaunt vor sich hinstarrte.
»Was hast du denn eigentlich?«, fragte er. »Ziehst ein Gesicht.«
»Na. Hab’ eben nachgedacht«, konterte Neal.
»Echt?«, sagte Niyol. »Blöde Idee.«
»Hier. Zieh’ mal an dem Joint. Dann vergeht dir das Denken«, kicherte Chao. »Hab´ ich vorhin schon vorgedreht.«
Der Joint macht dir Runde, während sie in einer Front zur Innenstadt spazierten.
»Weg! Da vorne rein. Die Bullen«, zischte Jalen keine zehn Minuten später.
Schnellen Schrittes bogen sie in eine dunkle, schmale Seitengasse ein, um die Polizisten abzulenken. Dann rannten sie blitzartig los und um die nächsten zwei Ecken weg. Keuchend blieben sie stehen.
»Wir haben es geschafft«, jubelte Rafe. »Wir haben sie abgehängt.«
Neal grunzte verärgert. Wir haben gar nichts geschafft. — Ist das ein besch... Leben! Ich hasse es.
»Wenn ich dein Gesicht heute sehe, könnt’ ich dir eine reinhauen«, blaffte Jalen.
Er hatte mindestens so schlechte Laune, rempelte Neal, und Neal rempelte prompt zurück. Niyol tangierte ihr Gebahren nicht. Er wies auf den Hinterhof einer Kohlenhandlung, auf dem sich gepackte Säcke stapelten.
»Schaut lieber da! Kohlen! Ein ganzer Berg Kohlen! Gratis zum Abschöpfen. Wie klingt das?«, strahlte er.
»Klingt in eine mollig warme Hütte kommen«, lächelte Chao. »Nicht schlecht, echt.«
Neal lauschte grummelnd. Welch dumme Gespräche. Existenzielle Fragen? Der gleiche Small Talk wie bei meinem Alten. Ja. Wir kaufen blablabla! Und wir: Wir klauen blablabla, weil ...
»Ihr seid doch alle blöde«, zischte er ärgerich.
»Was ist denn wieder? Wer hat dir denn auf den Schlips getreten«, zeterte Jalen.
»Du bist mir eben zu blöd«, fauchte Neal ungehalten zurück.
Seine vier Freunde gingen voraus, während Neal ihnen zögerlich und unüberzeugt folgte. Es dauerte schiere Ewigkeiten, bis sie bei der Diskothek ankamen. Dann: der nächste Streit in der Diskothek. Eine Rauferei, weil Neal sich mit einem wildfremden Typen anlegte. Rafe riss ihn von dem Gegner weg, nachdem beide als boxendes Knäuel auf dem Boden lagen. Anschließend machten sie zu fünft Front und verzogen sich erst, als sich der Rausschmeißer näherte.
»Du bist echt eine Katastrophe«, schimpfte Jalen auf dem Rückweg.
»Hört auf!«, ermahnte Chao. »Lasst uns die Kohlen klauen.«
»Ohne Auto? Du glaubst doch nicht, dass wir die Säcke durch die halbe Stadt schleifen.«
»Dann klauen wir eben vorher eine Karre. — Wie wäre es gleich mit der da?«
Neal dachte an Moss und die Literatur. Von wem war doch das Zitat? Bestimmt von einem seiner Russen.
»Ein Raub! — Man wird sie bestrafen!«
»Kein Raub, sondern Mundraub.«
»Es ist Raub!«
»Raub ist nur, wenn ich reich werde. Doch es dient uns allen!«
Ja. Ich, Neal Yoan Quin Chichitzeca, war und bin ein Räuber.
»NEAL! Träum— nicht! Schnell weg. Hier sind Bullen«, brüllte Rafe.
»Hier sind überall Bullen«, konterte Chao.
Erst zwei Stunden später hatten sie ein Auto gestohlen und noch zwei Stunden später säckeweise Kohlen, die sie in der Fabrikhalle abkippten. Anschließend fuhren sie den Wagen an den nächsten Kai. Rafe ließ ihn ins Wasser plumpsen. Es war ihnen egal. Sie schauten nach, wie er im Wasser gurgelnd unterging. Ein endgültiges Glurbs und die Wasseroberfläche schloss sich über ihm, als hätte es ihn nie gegeben. Umweltschutz nein danke.
»Warst du schon mal auf dem Dach der Wahrheit?«, fragte Niyol Neal auf dem Rückweg.
»Nein«, sagte Neal knurrig.
»Dann komm! Wir schauen uns die Sterne an.«
»Das Dach der Wahrheit?«, schmunzelte Neal dann doch.
»Klar doch. Wenn man von oben schaut, ist alles wahr, meinst du nicht?«
Sie stellten eine wackelige einfache Leiter gegen das Oberlicht der Werkshalle und kletterten gemeinsam hoch. Niyol öffnete die Flasche Wein, die er sich bereits am Mittag gestohlen hatte.
»Hör mal, Neal«, sagte er.
Er trank den ersten Schluck und reichte die Flasche an ihn weiter.
»Ich verstehe dich ja", fügte er nach einer Pause an. »Aber was willst du machen? Uns noch tagelang mit deiner schlechten Laune bombardieren? Wir sind die Bösen! Das weißt du ganz genau. Du hast eine Menge Mist angestellt, und du kannst froh sein, dass sie es dir nicht nachweisen können. Vergiss nicht: Wir können uns nur rehabilitieren, wenn wir nachgeben.«
»Ich will aber nicht nachgeben«, sagte Neal bockig.
»Dann wirst du dich nicht rehabilitieren können.«
Neal schaute aggressiv zum Dach hinab.
»Willst du denn nachgeben?«, fragte er.
»Nein. Ich auch nicht.«
Niyol kicherte plötzlich und Neal lachte mit.
Ende der Leseprobe
Alle im Buch befindlichen Handlungen, Namen und Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, Namen oder Handlungen sind unbeabsichtigt und rein zufällig. Städte und Landschaften beugen sich der Fiktion.
hieß eine Attraktion auf der Strandpromenade von Coney Island in Brooklyn, New York von 2000 bis 2010. Spieler schossen mit Paintball-Gewehren von einer Plattform auf menschliche Ziele im unteren Bereich. Die menschlichen Ziele waren unbewaffnet. Sie durften die Spieler verspotten und beschimpfen, während sie den Geschossen auswichen.
L. Cerón wird Ihnen präsentiert von Studio Eskamotage — Kunst und Kapricen. Besuchen Sie unsere anderen Künstler: