Eine atmosphärisch dichte Schattenwelt. Verfolgungsjagden, Mordanschläge und ein verhängnisvolles Tagebuch mit einem Political Profiling, das mit Spott nicht spart.
Chi'inao' ersetzt den Titel Do Laze 2 in der überarbeiteten 3. Auflage (demnächst).
Edition 2015, 470 Seiten
ISBN-13: 978-1507815427
ISBN-10: 1507815425
Was bisher geschah: Der Protagonist Neal arbeitet als Zureiter auf der elitären Hacienda Felicidad. Er hat keinen gültigen Ausweis und steht auf der Fahndungsliste der US-amerikanischen Behörden. Der Hacendado Don Diego scheucht ihn für einen Hungerlohn. Dessen Tochter Susana ist Neals heimliche Muse - aber mit dem Mafioso Emilio Santander liiert. Dessen Sohn Ramón begleitet Neal zu heimlichen Treffen mit einer Ex-Studentengruppe, die sich als harte Bürgerrechtler entpuppen. Neal fühlt sich von allen Seiten eingekesselt und möchte am liebsten fliehen - doch er kann nicht. Seine persönliche Situation belastet ihn.
Doch Zorn auf dem Papier ist keine Realität und der kommende Monat fing nicht gut an.
¡No, no, no, no, nooo, señor Chichitzeca! ¡PARADA! — ¡Otra vez! ¡Chafa, chafa, chafa! ¡Qué diablo! ¡De nuevo! — ¡DINÁMICA — PRECISIÓN — CONCENTRACIÓN!1«, kommandierte Don Diego auch an diesem Morgen.
Neal versuchte sich an dessen Anweisungen zu halten, doch er scheiterte. Er trieb Kronos stets falsch an, so dass dieser die Absprungphase verpasste, zu kurz sprang, zu früh sprang, im falschen Winkel sprang ... Er versuchte es richtig zu machen, doch er konnte es nicht, weil er es nicht gelernt hatte. Die fortwährende ungehaltene Kritik Don Diegos prallte auf seine — an dem Tag — unkonzentrierte Leichtigkeit und brachte ihn immer mehr aus dem Konzept, bis nichts mehr ging.
¡No, no, no, no, nooo, señor Chichitzeca! — ¡INDISCIPLINA — SUEÑOS — INCAPACIDAD!2 Es reicht mir! Ich habe keine Zeit und Lust, mich mit ihrem Dilettantismus auseinander zu setzen. Sie machen mir das ganze gut trainierte Pferd kaputt! Ich entziehe ihnen hiermit den Trainingsauftrag für Kronos. — NESTOR! Du übernimmst Kronos. ¡Basta ya!«
Neal war mit einem Schlag wach, als er mit dieser harten Entscheidung konfrontiert wurde. Hatte ihn Frederico Dorrantes nicht gewarnt? Ja. Doch er hatte dessen Warnung ignoriert. Mit Verärgerung reagierte er auf die Zurücksetzung. Er schwieg perplex, danach tobte in ihm der Zorn. Dann die Unsicherheit. Dann der Neid. Er entzieht mir ... Shoot! Ist das eine Blamage degradiert zu werden. Erst setzt mir Susana Hörner auf und jetzt er!
»Diego!«, ermahnte Doña Reina ihren Mann energisch. »Warum hast du Chichitzeca den Trainingsauftrag für Kronos offiziell weggenommen? Konntest du es nicht geschickter anstellen?«
»ER hat keine Ahnung vom Springreiten und ich habe die Geduld verloren. Er träumte. Er passte nicht auf. Er hörte nicht auf das, was ich sagte. Nein, Reina. La cuenta es cuenta. Wir stehen unter Zeitdruck und wir brauchen das Geld für Kronos.«
»Dann sage Frederico, er soll Manuela anrufen. Sie kann Chichitzeca auch während ihrer Schwangerschaft trainieren. Sie hat mehr Geduld als du. Wenigstens eine Stunde. Chichitzeca ist ein ehrgeiziger Mann. Er wird mit der Zurücksetzung Probleme haben. Wir werden Probleme mit ihm bekommen. Das können wir nicht gebrauchen!«
»Das ist mir egal. Am Anfang hat er sich angestrengt. Aber nun? Seit Tagen strengt er sich nicht an. Keine Disziplin nur träumen, träumen, träumen ... Als ob sein Job sicher wäre. Nichts ist sicher. Vielleicht lernt er daraus und strengt sich an.«
»Und wenn nicht?«
»Auf jeden Fall wird er mir so keine Springpferde ausbilden, sondern das Nestor überlassen. Und vergiss Manuela. Ich werde ihr doch kein Geld dafür zahlen, dass ER etwas lernt! NEIN! Es ist nicht unsere Aufgabe, ihm das Reiten beizubringen, sondern es ist seine Aufgabe unsere Pferde zu trainieren. Kosten, Kosten, Kosten — NEIN! Nicht wegen ihm. Das ist er mir nicht wert.«
»Du machst einen Fehler, Diego.«
Gut! Diego sieht das nicht ein. Dann werde ich wohl wieder versuchen müssen aufgebrachte Wogen zu glätten ...
Doña Reina behielt recht. Die Degradierung nagte an Neal mehr, als er es sich eingestand. Neidisch blickte er zu Nestor, der in eleganten Sprüngen mit Kronos über die Hindernisse flog und den Hengst locker im Griff hatte. YO. Er kann es eben und ich bleibe eine Pfeife ...
Neal konnte nicht über seinen Schatten springen und das Thema Versagen und Zurücksetzung war eines, mit dem er nie gut klar gekommen war. Es war der Neal, der aus Angst seines Versagens nach Südamerika geflohen war und der aus Zorn auf seine Zurücksetzung mit dem bürgerlichen Leben gebrochen hatte. Und so war es auch jetzt.
Auf einmal ging nichts mehr. Er kam mit keinem Pferd mehr klar. Aus dem kleinen Blackout wurde ein großes. Und es wurde stündlich schlimmer und am nächsten Tag noch schlimmer. Dunkle Schattenwolken sammelten sich in seinem Kopf und erinnerten ihn an die blamable Degradierung, dann wieder an Susana, dann wieder an die Degradierung, dann daran, wer er war und wo er war und was er für sie hier auf Felicidad wirklich bedeutete. Gleichzeitig kam ihm sein Stundenlohn wie ein Hohn vor und er steigerte sich auch in diesen Sachverhalt immer tiefer hinein. Er verlor seine Konzentration und seine Motivation; er verlor alles, was mit einem normalen Arbeitsalltag zu tun hatte, während sich Fluchtgedanken breit und breiter machten.
Und da stets eines zum anderen kommt, erschien Emilio Santander, zurück von seiner Asienreise. Er kam mit seinem teuren hochglänzenden Mercedes angefahren, als gehörte ihm die Welt. Er trug einen leichten und hellen Sommeranzug, der schon von weitem teuer aussah. Er hatte eine extra schwungvolle Welle im Haar und ein besonders gutgelauntes und erfolgreiches Lächeln auf den Lippen. Schwungvoll steuerte er auf die Eingangstür zu. Sein Präsent war so groß, dass er es mit beiden Händen tragen musste. Es schien eine eingepackte Statue zu sein.
Sprachlos schaute Neal ihm nach. Er ließ das Pferd, das er soeben trainierte, in der Bahn stehen und ging auf die Terrasse. Dann trank er ein Glas Fruchtsaft. Zornig, hastig, jeder Schluck ein Mord. Ich will nicht mehr. Warum verschwört sich immer alles gegen mich?
Es hatte sich verschworen, denn Emilio Santander kam nun wieder fast täglich nach Felicidad. Darin war er zweifellos hartnäckig, trotz aller Widerstände, auf die er stieß. Don Diego kleidete seine Abweisung und betonte Höflichkeit. Ramón blieb grantig wie immer, Doña Reina diplomatisch freundlich, Carmen ignorant. Hernán, der gelegentlich kam, hielt sich mit seinen aggressiven Kommentaren nur schwerlich zurück. Auch Susana schien trotz der geplanten Heirat keinerlei Verbindlichkeiten zuzulassen.
Neal bewunderte Emilio Santander dafür, dass er sich konsequent über die Ablehnung der Familie Carranza hinwegsetzte. Selbst Susanas schreckliche Launen, ihre Unnahbarkeit und schonungslose Zurückweisung schreckten ihn nicht. Und während Neals Bewunderung für seinen Nebenbuhler stieg, sank seine Laune tief, tiefer, noch tiefer.
»Welch merkwürdiges Verhältnis«, kritisierte Lisander. »Doña Susana und Don Emilio wollen heiraten, aber sie schauen sich an wie Feinde. Sie verbringen nicht die Nächte miteinander, sie küssen sich nicht, sie gehen nicht einmal Hand in Hand oder lächeln ein wenig.«
Neal lauschte grimmig. Susana Hand in Hand und in seinen Armen ... Ich platze nur, wenn ich mir das vorstelle!
»Er kann einem fast leid tun, dieser schreckliche Santander. Auch wenn ich ihn nicht mag ... er bemüht sich wirklich! Doña Susana giftet ihn an, sie scheucht ihn weg und er kommt immer wieder lächelnd zurück und umgarnt sie liebevoll. Das ist sehr mutig und charakterstark. Ich würde für immer gehen", bestätigte Manuel.
»Was würdest du denn machen?«, wandte sich Lisander an Neal.
Neal schaute grimmig. Eine Bombe? Ja, eine Bombe!
»Mir das nicht bieten lassen und gehen?«, antwortete er, weil ihn Lisander weiter anschaute.
Doch Emilio Santander ließ es sich bieten und er kam immer wieder zurück wie ein Ball, der an einem Gummiband hängt. Und Neals Bewunderung für dessen Hartnäckigkeit stieg täglich. Wie kann jemand seinen Weg gehen, ohne jeden Zweifel zu haben und sein Ziel nicht aus den Augen verlieren?
Jeden Tag wurde Neal neidischer. Er schaute im Minutentakt zur Einfahrt, nur um zu sehen, wann der Mercedes kam, damit er sich noch mehr ärgern konnte.
Emilio Santander wurde zu einem Spiegel seines eigenen Misserfolgs: stets ein Handy in der Hand. Strahlender Erfolg ins Gesicht geschrieben. Selbstbewusste Kommandos, die verkündeten, dass er über keinen seiner Befehle nachdenken musste. Er schläft nicht im Auto ... er muss seine Kleidung nicht aus einem Koffer ziehen ... er kann reisen, wann er will, wohin er will ... ich werde NIE in die Position kommen, Befehle zu erteilen, solange man mich wegen Disziplinlosigkeit und Träumerei anschimpft und in Hilfsjobs degradiert. Selbst Julián hat mehr Rechte als ich. Zweifellos: Emilio Santander lebt die Freiheit, von der ich träume ... und er hat Susana! Ja. Er ist der Eroberer meiner Königin ... meiner heimlichen Zukunft!
Neal dachte an Salvatrice und Italien. Zweifel machten sich breit und breiter. Zweifel, auch in Italien vielleicht keinen Job zu finden. Zweifel, sich und Salvatrice, ihr Kind und seine peruanischen Ziehkinder nicht versorgen zu können, wenn er keine kriminellen Wege ging. Vielleicht gar nicht erst bis Italien zu kommen.
Neal steigerte sich in die möglichen Schwierigkeiten und bauschte sie zu einem riesigen Berg Schmutzwäsche auf, dem er hilflos gegenüberstand. Seine Motivation sauste in einem schnellen Minenaufzug in das unterste Flöz eines Kohlenschachtes und blieb dort stecken.
Doña Reina stand mit einer großen Grubenleuchte am Eingang des Schachtes. Besorgt beobachtete sie dessen schwankende Gemütslage zwischen Euphorie, Zorn, Hilflosigkeit und stiller Resignation.
»Señor Chichitzeca«, mahnte sie. »Begleiten sie mich bitte nach Aquascalientes, Meine Einkaufsliste ist heute noch länger als sonst. Ach und brauchen sie nicht neues, festes Schuhwerk! Die Regenzeit naht und sie können weder in Leinenturnschuhen noch in den eleganten schwarzen Schuhen ...«
»Doña Reina! Ich pflege mich ganz alleine einzukleiden«, protestierte Neal.
Er dachte, dass er hundert Paar Schuhe brauchte, um mit Emilio Santander konkurrieren zu können.
Doña Reina sah den Gedanken auf seinem Gesicht.
»Und sie pflegen das heute zu vergessen«, befahl sie. »Ich bezahle ihre Schuhe, denn ICH weiß, wo die guten Geschäfte zu finden sind und SIE nicht.«
Ihr Lächeln war unbezwingbar.
Ein Nein war unmöglich und so sagte Neal: »Ja!«
Sein »nein« hätte Neal am liebsten Ramón an den Kopf geworfen, doch es blieb auch ihm gegenüber ein »ja«. So gingen regelmäßigen Fahrten zu den foo’s weiter, obwohl Neal lieber in seiner Hängematte gefaulenzt hätte, um sich von seinem schwelenden Ärger abzulenken. Mittlerweile waren diese Reisen zu den foo’s zu einer Art Arbeitsroutine geworden gleich dem Pferdetraining. Ebenso professionell ging Neal vor. Stift. Block. Konzentration. Eigentlich war er ein richtiges Mitglied der foo’s, wenn man es genau nahm, denn er musste sich intensiv über die gesellschaftspolitischen und wirtschaftspolitischen Zusammenhänge Gedanken machen, weil er sonst die Argumente weder einordnen noch gewichten konnte. Er kehrte indirekt auf die aktive politische Bühne zurück. Mehr oder weniger. Ihm fiel auf, dass er vieles nicht verstand, persönlich nicht, sprachlich nicht. Das ärgerte ihn. In Anbetracht schwelender Probleme auf Felicidad wog dieses Nicht-Wissen doppelt. So lauschte er noch genauer und lernte Spanisch schneller als je zuvor.
***
Neal kannte Zacatecas von seinen Ausflügen mit Doña Reina. Ebenso das Restaurantcafé Bohemia. Es lag im Stadtzentrum und wurde abends gut frequentiert. Kerzen auf den Tischen. Farbkräftige Ö lgemälde an den Wänden sowie einige Papel Amate. An der großen Wand links neben dem Eingang befand sich ein großes Wandgemälde, das eine antike Straßenszene aus Zacatecas zeigte. Es war verfremdet und trug kräftig rote, grüne und gelbe Farben. Neal wurde an Phoenix erinnert, an die Küche der WG Mercand 56. An das Riesen-Wandbild mit dem großen, alten bunten Bus und dem Wegweiser ins Nimmerland, nach Oz ...
»Du träumst«, ermahnte ihn Ramón und schreckte ihn auf. »Suche dir etwas zu Essen aus, denn du konntest nicht am Abendessen auf der Hacienda teilnehmen. Abraham wird mich danach fragen.«
»Don Ramón ...«, murrte Neal genervt.
Doch er schwieg, als Ramón ihn mit einem Fingerzeig zum Kellner schickte und mit dem nächsten Fingerzeig andeutete, dass sie in einem Separée saßen. Neal schaute sich irritiert um. Er fragte sich, ob der Ober wusste, dass er zur Gruppe gehörte oder ihn noch vor der Bestellung vor die Tür setzte. Er hatte Glück und wurde bedient. Während er aß, schweiften seine Gedanken in die Vergangenheit:
Dyl, Daw, die eineiigen Fünflinge, Chet, Moss, Booker, Cade ... die üblichen Verdächtigen, kommen von einem Ausflug zurück. Es ist nachts. Hinter ihnen lag eine Graffiti-Nacht, nicht geplant, sondern impulsiv aus dem Nichts entstanden. Die Spraydosen waren auch aus dem Nichts dagewesen. Rot, pink, lila, silber ... An Motiven hatte es ihnen nicht gemangelt, denn ihre Rebellion gegen die Gesellschaft blieb ungebrochen. Plötzlich Polizei. Waffen. Die Polizei hatte sie gestellt. Sie waren getürmt, über den Zaun und weg. Glück gehabt, nicht mehr. Doch Schüsse hatten sie verfolgt. Glücklicherweise waren sie ins Nichts geprallt.
»Dreckskerle«, hatte Cade geschrien. »Ihr schießt doch alles ab und kriegt dafür jede Absolution der Welt.«
Das ist eine gute Stunde her. Nun sitzen sie in der WG einträchtig zusammen. Eigentlich ist alles friedlich, doch sie können die Schüsse nicht vergessen, nicht entspannen. Ihre Angst steckt noch tief.
»Was wollt ihr, meine Herren. Alles ist gut«, zitierte Moss pathetisch.
»Was meinst’n?«, fragte Booker.
»Na, ist eine Philosophie. Jeder soll so leben, dass niemand leidet.«
»Klasse!«, sagte Niyol. »Keiner isst mehr ein Tier auf und keiner killt einen Baum?«
»Und kein Bulle schießt«, ergänzte Daw. »Wir leben ewig."
***
Neal stieg in das abendliche Gespräch der foo—s erst ein, als sie beim Tagesordnungspunkt Nr. 3 angekommen waren. Er fragte sich, warum sie diesmal so schnell voran gekommen waren, während er nur gegessen hatte. Diesmal nahm ein Aktivist an der Versammlung teil, der sonst selten dabei war und den er kaum kannte. Auch diesmal erfuhr er nichts über ihn. Immerhin konnte er dessen Namen in sein Notizbuch eintragen.
Foo 9: Ricardo Elías Zúñiga
Mehr nicht. Weitere Zuordnungen oder Kommentare waren nicht möglich, denn der Aktivist sprach ausschließlich über Fakten; ihn schien es persönlich nicht zu geben.
»... hier der Zeitungsbericht, den mir Yazmin bereits heute Abend zur Verfügung stellte. Online ist er ab zehn Uhr verfügbar und morgen wird er auf Seite drei zu lesen sein«, sagte Ricardo gerade.
Neal lauschte der angenehm leisen, und doch unbeirrbar charismatischen Stimme Ricardos. Gleichzeitig betrachtete er das Dokument, dass der Aktivist mit dem Beamer an die Wand projiziert hatte. Der Text packte ihn so, dass er sein Notizbuch vergaß.
El Tiempo México
Hauptstadt unter Belagerung
Nach Bekanntgabe der neuen Schul- und Hochschulreform kam es zu heftigen Demonstrationen gegen den
Bildungsminister Raffaelo Labastida. Die
Sondereinsatztruppen der Polizei setzten Tränengas, Schlagstöcke, Wasserwerfer und Gummigeschosse ein. Etwa fünfhundert Demonstranten wurden verletzt, einige schwer. Die Ausschreitungen wurden der
Studentenbewegung LOM zugeschrieben. Ihr Sprecher
Pedro Valero wies die Behauptungen von sich und sprach von bezahlten Regierungs-Provokateuren und eskalierter Polizeigewalt. Valero sagte: ›Das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit sollte garantieren, dass Bürger demonstrieren können, ohne das Opfer von Gewalt zu werden.‹ Die für morgen angesetzte Demonstration
wurde verboten. Über mehrere Stadtviertel wurde eine Ausgangssperre verhängt. Sondereinsatzkräfte
kontrollieren die Straßen.
Bericht von Yazmin Barranco
Dem Text folgten eine Reihe überlebensgroßer Fotos. Neal betrachtet sie eingehend. Eigene Gedanken holten ihn ein. Wasserwerfer, Tränengas ... an solchen Demonstrationen waren wir nie beteiligt ... weil wir nicht die waren, die gegen die Ungerechtigkeiten gefochten haben? In der Retrospektive muss ich es leider zugeben!
Er zögerte. Aber ... und ... wir waren die Freaks, die ähnliche Straßenschlachten angezettelt haben. Einfach so!
Er zögerte länger. Aber wir sind nicht geflüchtet, sondern wir sind auf die Polizei losgegangen. Einfah so! Aus Zorn. Aus Rache.
Der Gedanke packe ihn. Und nein. Wir haben uns nicht verhauen lassen. Auch wenn ich es vor Gericht abgestritten habe: JA! Ich habe nicht nur rechte sch... Typen tätlich angegriffen, sondern auch Polizisten. Und JA! Ich war vielleicht nicht umsonst im Gefängnis. Auch wenn ich wütend war, wegen der Ungerechtigkeit zuvor. Und noch einmal JA! Vielleicht würde ich es wieder tun, wenn ich noch einmal wütend werde. Who cares? Aber ob es richtig war?
Neal war sichtlich irritiert. Das erste Mal gab er den Tatbestand seiner Schuld vor sich selbst zu.
Und in seine packenden Erinnerungen sprach Ricardo mit einer Stimme, die noch charismatischer und entschlossener als zuvor.
»Spürbare Aggressionen toben durch die Straßen. In den Gesichtern der Demonstranten ist der Glaube an die Gerechtigkeit und die Friedlichkeit erloschen. Und diese Polizisten sehen nur militante Angreifer, die die Staatssicherheit gefährden. Valero sagte mir, das wäre erst der Anfang. Sie machen weiter. Stoppen wir es? Ich denke nein, denn die Landesregierung soll uns eine demokratische Lösung anbieten.«
Nicodemo: »Was ist mit unseren Freunden?«
Sergio: »Aufgerieben! Die Sondereinsatzkräfte hatten sie im Visier, obwohl sie Masken trugen. Hoyo liegt im Krankenhaus. Jacome ist verletzt. Verhaftet: Aurelina und Xitlali. Verschwunden: Salvador.«
Ein Blick von Neal zu Sergio. Sergios Worte wogen mehr als je zuvor. Der militante Satz eines kämpferischen Mannes, den er seit dem Billardspiel gut kannte. Neal bewunderte Sergio. Er spricht wie er denkt wie er spielt. Klack-klack!
Raúl sagte schmunzelnd: »Hoyo kriegt immer etwas ab und Aurelina wird immer verhaftet.«
Graciela: »Die BSM3 hatte sie offensichtlich schon im Vorfeld beobachtet? Ein Verräter bei unserem konspirativen Treffen?«
Sancho: »Die BSM oder die MNPM4?«
Pasqual: »Wir haben bereits Einspruch erhoben. Adoncia ist in der Hauptstadt und leistet rechtliche Hilfe.«
Sergio: »Wir treffen unser Team und Valero in zwei Tagen. Bis dahin schöpfen wir alle juristischen Mittel aus, um das herrschende Versammlungsverbot zu umgehen.«
Ein weiterer Blick von Neal zu Sergio und ein gedanklicher zurück zum dominanten Billardspiel. Und wie er sich durchsetzen wird! Tonangebend. Klack-Klack. Ihr hierhin, ihr dorthin. Er ist ein echter Anführer! Ein Architekt, der überall Häuser baut, auch im Kopf: massiv und unbeirrbar ...
Iñigo: »So schnell geben wir nicht auf. Labastida und Casillas werden nicht mit Polizeigewalt ihren eigenen Staat aufstellen.«
Ricardo: »Ich habe die Reportage bereits an Headlongs5 geschickt, damit wir sie international lanciert haben. Ich war heute morgen bei der El Tiempo16 und habe Yazmin 7 mit unseren Fotos gespickt, damit sie aussagekräftiges Material hat.«
Paquito: »Was ist mit der APREM8?«
Ricardo: »Luisina hatte einen Termin bei José.9 Sie ist gleich von der Universität dorthin. Dabei hat sie unser Misstrauensvotum mitgenommen, damit José die aktuellen Rechercheergebnisse vorliegen hat.«
Neal warf nur einen kurzen Blick zu Ricardo. Ich kenne ihn nicht und kann mir kein echtes Bild von ihm machen, weil er selten dabei war. Manchmal klingt das, was er sagt kompromisslos militant und seine Blicke sagen das gleiche! Er formuliert meist das, was auch ich denken würde, aber er steht darüber und ich nicht. Und er spaziert mal eben bei der El Tiempo vorbei, während der Herr Richter und der Herr Senator und der Herr Bürgermeister und der Herr General ... NEAL! Hör auf, dich aufzuregen!
Iñigo: »Was ist jetzt mit Labastida? Die auf sein Konto überwiesenen Stützgelder des Delwaro reichen, um ihm Korruption nachzuweisen?«
Severino: »Ja.«
Pasqual: »Wenn das Verfahren eröffnet wird: JA! Aber das kann dauern. Wir sollten ihn vorher kippen.« Tomás: »Labastida und die Delwaro und die Sieben Apokalyptischen Reiter. Wir sollten eine mögliche Verbindung zwischen Casillas und der Delwaro verifizieren.«
Iñigo: »Nein! Labastida müssen wir sofort kippen.«
Sergio: »Durch diese Demonstration.«
Nicodemo: »Wir werden nachweisen, dass die MNPM als militante Aufwiegler an der Demonstration beteiligt waren und die Gewalt forcierte.«
Neal schaute auch zu ihm. Wieder erinnerte er sich an das Billardspiel und dessen Worte: ›Jemanden über den Tisch ziehen? ... Sie wissen gar nicht, welch harter Gegner ICH sein kann.‹ Yo. Und wie er seine Ziele erreichen wird, wenn er das will!
Benigno: »Geben die Fotos das her?«
Sergio: »Mirandas Team und ich werden alle Fotos einzeln durchgehen." Er lachte. "Eine Nachtschicht. Schaut her, wo wir ansetzen werden.«
Neue Bilder warf der Beamer an der Wand. Es Gewaltaufnahmen, die während der Demonstration fotografiert worden waren. Schlagstöcke. Steine. Einzelne Gesichter waren in rot eingekreist. Es waren eigene Fotos der Widerstandsgruppe, doch sie waren so detailliert wie Polizeifotos. Ein Profi musste sie fotografiert haben.
Neal hörte auf, eigene Gedanken zu denken, und lauschte den Diskussionen intensiver. Er verstand die Texte inhaltlich in Gänze, anders als komplizierte Rechts- und Verfassungsfragen, anders als detaillierte Fakten zu Landrechten und Umweltverschmutzung, die ihm nicht geläufig waren. Seine Faszination für die foo’s fand stetig mehr Nährboden, denn ihre Argumente waren engagiert und klangen gerecht — und sie ließen in seinen Augen die alten kämpferischen Studenten wiederauferstehen, von denen Iñigo in Rosa Morada gesprochen hatte.
Neals Irritation wuchs. Plötzlich kam ihm eine neue Einsicht; sie warf ihn aus der Bahn. Nein! Ich muss es einfach zugeben. Die foo’s klingen nicht wie die fiesen Criollos, die ich in ihnen sehen wollte. Ich mag die foo’s, wenn sie keine aufgeblasenen Bonzen sind. So wie jetzt. Und ich bin eine Pfeife, denn ich kann nicht mithalten.
Mit einer Rakete flog Neal zurück in die Vergangenheit nach Red Hook, dorthin, wo er sich einst begraben hatte. Gedankenfetzen schossen durch seinen Kopf. Es waren die, die ihn seit mehr als zehn Jahren begleiteten: › Ja! Freiheit. Ich habe sie. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich bin vogelfrei! Und frei zum Abschuss, denn ich habe keine Rechte mehr. Nicht als entlaufener Sträfling, quasi. Das bin ich doch. Ein Dieb, ein Lügner, ein Drogenkonsument, einer der Randale macht. Ja! Das bin ich. Jemand, den man wegsperren muss, weil er eine Gefahr für die Gesellschaft ist. Das ist es doch. Alles andere ist Selbstbetrug. Hört alle her: Ich bin nicht der Schulsprecher, der Jura studieren wollte, ich bin der Typ aus dem Juvie, also aus dem Knast, weil er gefährlich ist. F**ck! Wie fühle ich mich? F**CK! Gar nicht aufregend, eher F**CK!!! ONE WAY STREET. SHOOT THE FREAK. LIVE HUMAN TARGET. YEAH!‹
Neal schluckte und griff viel zu schnell nach seiner Cola, um sich abzulenken. Doch er konnte sich nicht ablenken, denn seine atemlosen Erinnerungen blieben bei ihm. Fast war ihm, als würde er nicht hier, in Zacatecas, sitzen, sondern am Hafen von Red Hook. Gedanken der Vergangenheit platzten in die Gegenwart und zerbombten sie schonungslos. Gedanken von vor gut zehn Jahren, die jetzt präsenter wurde denn je.
Aber was mache ich? Mein Alter hat schon recht. Sie fangen mich ein wie ein wildes Tier und degradieren mich nicht zu jemanden, der passiv ist! ... Mit dem MAN etwas tut ... der danke und bitte sagt ... Ich bin die gleiche Niete wie mein Alter, nur anders, denn ich werde NICHTS, rein gar nichts erreichen ... BUILD TO BE UNSUITABLE! BUILD TO BE USELESS. BUILD TO BE SUPERFLUOUS. So wie ich? Was macht man dann? Springt man in das kalte Wasser und wartet man, bis man tot ist?
Ein Geräusch schreckte ihn auf und brachte ihn zurück in die Realität, aber nicht wirklich, denn die Trance blieb. Und die Diskussion über die Demonstration ging weiter, während die vom Beamer auf die Wand projizierten Bilder zu Standbildern wurden. Niemand schaltete sie weg; sie blieben auch in Neals Kopf haften.
Foo 10: Ulises Sergio Velenzuela.
Ulises: »Eduardo schneidet das Video von der Demo bereits zusammen. Melitón — danke Melitón — hat den Text bereits fertiggestellt. Morgen stehen sie auf unserer Webseite — danke Jesús für die Nachtschicht. Ich werde die Inhalte in meinem Sender popularisieren. Bronca10 schließt sich an und mit Leocadia11 bin ich im Gespräch. Der Sender 27.412 hat Angst vor einem neuen Anschlag wie auch die SOCE13. Vielleicht auch nicht.«
Neal musterte Ulises offener als sonst. Mal schauen, was ich über ihn notiert habe.
Radiokommentator, eigener Sender ¡ojo! RR Radiodifusión Radioactivo
Alleine der Name des Senders klingt schon revolutionär! Und was schreibe ich nun dazu?
Linke Seite, schwarzer Stift:
Velenzuela ist ein kämpferischer Mann, der sich selbst durch seine Worte anfeuert. Er studierte Jura (?) Politik (?) Indigener aus der bürgerlichen Oberschicht. Ein harter schneller Diskussionspartner, der nie von seiner Meinung abrückt und dessen zynische Kommentare allseits gefürchtet sind ...
Rechte Seite, grüner Stift:
... so wie ich es in den Gesichtern der anderen ablese. Aber manchmal ... Ich finde, manchmal dreht er ab und verhakt sich noch schlimmer in Kleinigkeiten als Dr. Désp. Hist. Ped.14 Ramón oder Prof. Dr. Dr. Spac.15 Paquito. Dann verliert er die Übersicht und ist echt SCHRECKLICH tapsig.
Neals Gedanken drängten von der Gegenwart in seine eigene Vergangenheit sieben Jahre zuvor. Er hätte lügen müssen, wenn ihn die Bilder, die vor seinem geistigen Auge entstanden waren, nicht mitgenommen hätten. Auch wir: Straßenkriege. Besetzte Häuser. Die Hooligans, die uns aufmischten.
Klar hat es uns auch erwischt. Notarztwagen. Panik. Angst. Daw mit seinen Krücken ... Dinis mit der Kopfverletzung, die ihn beinahe umbrachte ... Thadys Splitterbruch am Arm ... Alex, der nicht mehr richtig laufen kann, nachdem es ihn an der Hüfte erwischte; irgendwie haben sie das nicht hingekriegt. Tyrone mit dem blinden Auge ... Saulo, der uns nachher verließ, weil sie ihm in den Arm schossen und der gelähmt blieb ... Cade: Das mit dem Autocrash! Wie die ihn zusammenflickten! Einer der Freunde von Dean und Shell, der getötet wurde ... ieh!
Er schluckte. Und ich? Ja, mich hat es auch böse erwischt. Nicht nur die Sache bei Daniel, aber davor, als ich die sch... Kerle mit dem Messer abwehrte und sie mir den ganzen Arm aufschlitzten ... Fast wäre ich verblutet ... Hat echt nicht viel gefehlt und die Narbe ist auch nicht von Pappe. Überhaupt meine Arme: Sie sehen aus, als wäre ich in einen Stacheldraht gefallen ... eine Verletzung nach der anderen ... Who cares? Yikes! — Was haben wir gelacht, damals in Atlanta, als wir unsere Narben herumzeigten. Einer hatte mehr als der andere. Bei Denzel und Booker sah man’ s nicht so genau, weil sie so schwarz sind ... aber Dinis ... Chet ... Henry ... Anrai ... Shoot! Es war schon Krieg. Echter Krieg.
Neal spürte Blicke auf sich ruhen. Er schaute hoch und bemerkte Sergio, Ricardo und Iñigo, die ihn beobachtet hatten. Er wandte sich wieder seinen Aufzeichnungen zu und mit einem Mal fiel ihm auf, dass seine akribischen Aufzeichnungen im Ganzen vielleicht doch kein so schlechtes Licht auf die foo’s warfen, wie er eigentlich gedacht hatte. Die foo’s waren zweifelsfrei kritische Sozialrevolutionäre und keine Bonzen. Angepasst, aber noch immer mutig und kämpferisch. Vielleicht kann man nur da oben erfolgreich sein, wenn man so wie sie ist? DAS sollte ich mir einmal überlegen.
Diese Feststellung brachte ihn ganz aus dem Konzept. Sein mühsam, nur für diesen Abend wieder aufgebautes Selbstbewusstsein verschwand mitsamt seiner Laune in einem tiefen Loch. Sämtliche Zukunftsvisionen verflüchtigten sich. Wieder wurde er daran erinnert, wer er war, wer Emilio Santander war und wer die foo’s waren. Wieder wusste er, dass er dort oben, wo sie agierten, nie hinkommen würde. Der Gedanke riss ihn in die Tiefe seiner Selbstzweifel, zurück in den Gesellschaftshass, wieder hin zu Bewunderung zurück zum Neid und ließ ihn taumeln.
Nein. Eigentlich hätte ihn diese Diskussion, hätten ihn diese Überlegungen nicht wirklich aus der Bahn geworfen, doch die desillusionierenden Schatten der Erinnerungen griffen mit eiserner Faust nach ihm und ließen ihn erstarren. Drogenexzesse, Straßenkriege, Gewalt. Assoziationen wegen der Fotos, die der Beamer unbarmherzig auf die Wand vor ihm warf.
Er sah sich inmitten von Schlagstöcken und Faustschlägen, von Blut und Schreien, von Hassrufen. Er erlebte die Szenen im Zeitraffer noch einmal, während die Fotos auf der Wand zu den Gesichtern der Freaks und der verfeindeten rechten Hooligans wurden. Die Stimmen der foo’s im Raum drangen zu ihm wie ein Sprachrohr der Polizei, wie die beklemmenden Stimmen der Richter und ließen seine Ohren dröhnen.
The court brought in a verdict of guilty!16
NO.
You plead guilty?17
NO!
You incurred guilt.18
NO!
We pronounce your guilty.19
NO!
You are responsible.
NO! No?
Yes. I feel I’m to blame!20
Yes. I SHOULD have let it! I SHOULD have gone.
GUILTY?
YES, Sir.
Yo’on lao na’abo’? SOME HOPE!21
Vergessen war das Lachen der Freaks, die fetzigen Abende und die Abenteuertouren. Stattdessen Schmerz. Flucht. Angst. Panik. Zorn. Bilder seiner Albträume mit jedem Atemzug realer. Die Bilder griffen nach Neal und blendeten die Gegenwart ganz aus: endlose Verhaftungen, Isolierzelle, boot camp, Gerichtsverhandlungen; die Androhung der Einweisung in die Psychiatrie, weil er nicht nachgegeben hatte:
I WILL BURN- Y-O-U-R WORLD DOWN.
NOOO!
Immer wieder die Stimme des Richters: »Egal was sie meinen zu sein: Sie sind ein krimineller Gewalttäter ohne jegliches soziales Bewusstsein«.
NOOO!
Lang vergessene Bilder blieben vor seinem geistigen Auge blieben und warfen ihn in herbe Albträume zurück, in Resignation und tiefe Verzweiflung über ein Leben am Abgrund, das er nie hatte führen wollen und in dem er noch immer gefangen war. Panik packte ihn. Er nahm seine Tasche, stand ruckartig auf und verließ wortlos das Lokal, und er konnte nicht schnell genug vor der Tür sein.
Doch das rettete ihn nicht, sondern verschaffte ihm nur Luft.
Draußen spazierte er schnell und unruhig atmend durch die Straßen, wie um durch die Eile die Bilder abzuschütteln. Er scheiterte.
An einem Kiosk holte er sich Biere. Er trank eines fast in einem Schluck aus. Das nächste auf dem Weg zum Bahnhof, denn er wollte nicht zum Auto zurück, nicht zu den foo’s zurück, niemanden sehen. Das dritte am Bahnhof. Tagebuch. Pferdetraining. Ziele. Alles Lüge! Selbstbetrug.
Noch immer kehrte seine Ruhe nicht zu ihm zurück.
Fast hektisch scrollte er mit den Fingern über die Tafel, wann der nächste Zug nach Felicidad fuhr. Fiebrig dachte er daran, vom Bahnhof zur Hacienda zurück zulaufen, in den Falcon zu steigen und weit weg zu fahren.
Der Zug kam erst in zwei Stunden. Neal setzte sich mit seinem Bier auf eine nahe Mauer. Noch immer konnte er sich nicht beruhigen. Er wartete. Stunden, die ihm wie Minuten vorkamen, vielleicht auch umgedreht.
***
»Was war das?«, fragte Iñigo Ramón kritisch, als Neal nicht zurückgekommen war. »Ein Trauma? Wegen der Fotos? Dann wird er nicht hierhin zurückkehren. Sollen wir ihn suchen?«
Ramón warf nur einen kurzen Blick auf seine Uhr, auf die Bilder der Demonstration und einen vielsagenden zu Iñigo. Er nickte, packte seinen Laptop und seine Sachen zusammen.
»Danke Iñigo!", sagte er. »Ich werde mich alleine um die Angelegenheit kümmern, denn es ist unser Angestellter, und ich bin für ihn verantwortlich.« Er verließ das Treffen kurzentschlossen.
»Und wir werden NIE wieder in seiner Gegenwart solche Gewaltbilder zeigen«, ermahnte Iñigo seine Freunde energisch. »Er hatte einen Schock, und wir wissen nicht, was er erlebte. Es fällt in unsere Verantwortung!«
***
Ramón ging die Straße hoch und herunter, schaute in Nebenstraßen, suchte nach Neal. Er fand ihn nicht und entschied zum Bahnhof zu fahren. Dort parkte er den Wagen. Iñigo hat Recht. Er wird nicht in das Bohemia zurückkehren. Er muss hier sein, denn er muss zurück nach Felicidad.
Schließlich sah er ihn entfernt vor einer dunklen hohen Mauer hocken, eingekauert in den Poncho, regungslos. Er trat auf ihn zu.
»Was ist mit dir?«, fragte er.
Er warf einen sorgenvollen Blick auf dessen ernstes Gesicht, auf ihn, der nur langsam von der Mauer aufstand und gar nicht fit aussah. »Du magst keine Demonstrationen oder haben dich die Bilder der Gewalt erschreckt?«
Neal nickte nur. »Doktor und Hellseher?«
Doch sein Blick blieb ernst und würde es auch bleiben.
Sie verloren kein Wort darüber.
»Frage das nächste Mal bitte nach dem Autoschlüssel«, ermahnte Ramón kurz, unverkennbar besorgt.
Dann nickte er freundlicher und sagte: »Komm! Wir fahren nach Hause!«.
Er klopfte ihm freundschaftlich sanft auf die Schulter. Manchmal war er kein Feind, sondern ein großer Bruder und Lehrer. Der große Bruder hätte reden können, doch der Lehrer machte die Tür auf und verließ den Raum. So wie Ramón jetzt.
Ende der Leseprobe
Fußnoten
1Span.: Halt! Noch einmal. Mex.: Falsch!; Span.: Zum Teufel!
2Span: Disziplinlosigkeit. Träume. Unfähigkeit
3Brigada Seguridad de México, Sondereinsatzkommando der Polizei
4Movimiento Nacional del Progreso de México
5Informationsplattform: Headlongreports
6Tageszeitung: El Tiempo México, Ciudad de México
7Yazmin Barranco, Chefredakteurin der El Tiempo
8Presseagentur: Agencia de Prensa de México
9José Luis Lopez, Chefredakteur der APREM
10Radiosender Bronca, Ciudad de México
11Radiosender Antena Leocadia, Villahermosa
12Radiosender 27.3, Cuernavaca
13Radiosender SOCE von Mario Tarinos/Pedraza
14Dr.=Doctor; Désp.=Déspota; Hist.=Histérico; Ped.=Pedante
15Prof. Dr. Dr. Spac = spaced out. Engl./Sl.: abgedreht
16Engl.: das Gericht erkannte auf schuldig
17Engl.: sich schuldig bekennen
18Engl.: schuldig werden
19Engl.: jemanden schuldig sprechen
20Engl.: ich fühle mich schuldig
21Zapoteco Yatzachi: Trage Verwantwortung. Welch Hoffnung.
📜Die übersetzung der Fußnote 21 ist aus dem Diccionario Zapoteco de Yatzachi von INEZ M. BUTLER H. und wurde vom El Instituto Lingüístico de Verano und SIL zur Verfügung gestellt. Die Lizenz ist unter „FAIR USE”. Vielen Dank!
Alle im Buch befindlichen Handlungen, Namen und Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, Namen oder Handlungen sind unbeabsichtigt und rein zufällig. Städte und Landschaften beugen sich der Fiktion.
heißt »auflauern, ausspähen, spionieren, um zu verraten«. Der Begriff entstammt dem Zapoteco Yatzachi, einer Sprache der First Nations aus Oaxaca in Mexiko. 📓 Die Übersetzung ist aus dem Diccionario Zapoteco de Yatzachi von INEZ M. BUTLER H. und wurde vom El Instituto Lingüístico de Verano und SIL zur Verfügung gestellt. Die Lizenz ist unter „FAIR USE”. Vielen Dank!
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