Der Phönix aus Phoenix. Flucht zurück in die Staaten, in die alte Heimat. Wieder mal ohne Geld und Zukunft. Doch eine Hütte in Hillside wird zur neuen Revolutionszentrale.
Bimorítari ist fertig und erscheint demnächst.
Die Ö kodorffreunde halten Neal für einen Waldschrat, der zehn Jahre in der Wüste gelebt hat und keine Ahnung von moderner Technik hat. In Wirklichkeit weilt er mit seinen Gedanken in Mexiko und hört ihnen nicht richtig zu. Er streitet sich heftig mit Bren. Als Entschuldigung lädt Rusty ihn zum chinesischen Essen ein - und findet ihn plötzlich richtig nett.
Am nächsten Morgen stand Rusty mit seinem Trailblazer vor der Tür in Hillside.
»Komm mit! Ich lade dich zu einer Spazierfahrt ein. Oder hast du etwas vor, Neal? Die Kiddies sind in der Schule und Cayo nimmst du einfach mit. Deine Hunde stören mich auch nicht.«
»Spazierfahrt?«, lächelte Neal. »Nicht schlecht. Ich bin dabei! Aber ein paar Minuten brauche ich noch. Komm herein.«
Er öffnete die Tür sperrangelweit und bat seinen Freund ins Haus.
Rusty war noch nie in der Wohnung gewesen, seitdem Neal seinen Wohnraum in eine Einsatzzentrale umgebaut hatte. Neugierig betrachtete er das Equipment, während sich Neal umzog. Laptops, Sarahs alter Tower-PC, sich türmende Festplatten, CDs, USB-Sticks. Auch Dokumentenberge stapelten sich auf der überdimensionierten Sperrholzplatte, deren Kanten abenteuerlich hoch gebogen waren. Es sah nach echter Arbeit aus: Ein Laptop war eingeschaltet, das Mailprogramm geöffnet — und der Sarahs Monitor mit den bunten Schlieren lief ebenfalls.
»Was machst du denn hier«, rief Rusty freundschaftlich quer durch die Wohnung. »Sieht hier aus wie die Einsatzzentrale einer Revolutionsbewegung nach dem Krieg.«
Neal hatte sich aus seiner Jogginghose gepellt und kam mit seinen Schnürschuhen in der Hand zurück. Er schmunzelte offenherzig.
»Das ist die Einsatzzentrale einer Revolutionsbewegung im Krieg«, sagte er.
Er mochte Rusty, wenn er ihn alleine traf.
»Hast eine Menge Papierkram am Hut«, sagte Rusty.
Er nahm eine Festplatte in die Hand und drehte sie vorsichtig. Dann fiel sein Blick auf die kolumbianischen Reisepässe in der Mappe daneben und die Flasche Aguardiente. Er warf einen Blick auf die vielen spanischen Texte, die auf beiden Bildschirmen zu lesen waren. Sie muteten kompliziert an, selbst wenn man kein Wort Spanisch sprach. Und vor allem, war es richtig viel Text mitsamt Myriaden Paragraphen.
»Sollte man nicht meinen, wenn man dich so sieht«, sagte Rusty vorurteilslos. »Ich habe übrigens einen alten Monitor ohne Schlieren.«
»Dann bringe ihn mal vorbei«, sagte Neal und fuhr beide Computer herunter.
Rusty sah plötzlich an seinem Gesicht, wie viel Probleme er wirklich hatte.
»Morgen hast du ihn«, lächelte er und ging darüber hinweg.
Sie fuhren zum Stadtrand. Neal genoss den Abstand von der Gedankenarbeit, noch viel mehr, mit seinem langjährigen, gutgelaunten Freund durch die Heimat zu fahren. Er warf ihm einen freundlichen Seitenblick zu und schmunzelte. Sie alle im Ö kodorf hatten sich verändert, nur Rusty war noch der, der er schon immer gewesen war. Ausgefallene Frisur, lachende Blicke, chaotische Aura und doch ein anspruchsvoller Job. Rusty hatte sich am Tag zuvor von einer dankbar übersichtlichen, besonnenen und sympathischen Seite gezeigt. Freundschaft pur.
»Du fährst doch nicht spazieren — du hast doch ein Ziel!«, fragte Neal fordernd.
»Überraschung«, konterte Rusty vielsagend.
Er bog in einem eleganten Schlenker in eine große Einfahrt ein und fuhr einen asphaltierten Weg entlang bis zu einer großen, grauen Stahlhalle. Das danebenstehende rote Backsteingebäude stand offensichtlich länger leer, denn die Jalousien waren zugezogen. Vor dem Gebäude parkte jedoch ein anderes Auto. Ein Mann mittleren Alters wartete vor der Stahlhalle.
»Ein Freund?«, erkundigte sich Neal interessiert.
»Der Verkäufer.«
»Und du willst es kaufen?«
Rusty nickte lächelnd.
»Erbe, Erspartes. Ist ein erkleckliches Sümmchen zusammengekommen. Ich hab’s fest angelegt, aber jetzt muss ich es es investieren oder Steuern zahlen. Ich möchte eine kleine Fluggesellschaft gründen.«
Bewundernd sah Neal zu seinem Jugendfreund. »Hast du auch noch nicht erzählt.«
»Glaubst du, ich erzähle es im Ö kodorf herum, damit mich diese Tropfenzähler wegen Risikokapital und mit Renditeberechnungen zuqaken?«
»Hört sich teuer an.«
Rusty nickte.
»Klar. Aber warum auf dem Boden der Normalität denken, wenn es auch Visionen gibt. — Alle fünf Jahre stößt meine Firma turnusmäßig einige Flugzeuge und Hubschrauber ab. Ich habe mir bereits drei per Vorkaufsrecht gesichert — ja aufs Blaue. Lilly und ich dachten, sechs Augen sehen mehr als vier, deshalb kannst du mit entscheiden.«
»Wow«, sagte Neal.
Rusty fuhr mit einem gutgelaunten Schlenker in den Hof und kam nach einer eleganten wie wagemutigen Drehung zum Stehen. Neal genoss dessen Dynamik. Yo! Rusty! Der beste Fahrer der Welt und das bleibt auch so.
»Warum ich?«
»Yikes! Bren ist abwechselnd der gutgelaunte Freak oder ein fürchterlich knickeriger Familiendespot, der alle nervt. Und meine Eltern zetern mich seit Jahren zu, wie gefährlich Fliegen doch ist. Nein! Besser du mit deinen teuren Hemden und elitären Tischmanieren. Du verschweigst mehr als du weißt.«
Neal schaute verlegen, und Rusty lachte leise, weil er seinen Freund ertappt hatte.
Dann stiegen sie aus.
Der Eigentümer hieß Daniel Lime, begrüßte sie und schob das Hallentor mit einem immens lauten Rumpeln zur Seite. Neal trug Cayo wie ein Päckchen auf seinem Arm und streichelte ihn sanft. Doch er hatte Glück. Sein kleiner Sohn wurde glücklicherweise nicht wach. Aber nur, weil er mich die halbe Nacht zubrüllte!
In der Halle parkten drei ausrangierte Flieger, völlig verstaubt und mit Flugrost überdeckt. Die Flügel fehlten, die Räder, das Cockpit, ganze Teile, trotzdem hatten sie etwas Majestätisches an sich.
»Die drei stehen seit Ewigkeiten hier«, entschuldigte sich der Verkäufer. »Reiner Schrottwert. Ich habe schon mit einem Händler gesprochen. Das Abholen kostet mehr als dran ist. Gleiches gilt für die Ersatzteile da hinten im Schuppen.«
Rusty warf einen raschen Blick zu Neal. Will ich haben!
Neal warf den Blick zurück. Die würde ich auch in meinen Garten stellen.
Eine gute Stunde besichtigten sie das Gelände, dann fuhr Daniel Lime weg und sie blieben alleine zurück. Gemeinsam gingen sie übers Gelände und schauten sich genauer um. Jemand hatte einen ganzen Container Müll aufs Gelände geschüttet. Ö l auch. Eine wilde Deponie quasi auf dem Grundstück. Das wurde teuer.
»Hier halt mal«, sagte Neal.
Er drückte Rusty seinen kleinen Sohn in den Arm wie eine Einkaufstasche, hangelte sich an Fenster und Dachrinne hoch und schaute sich das Dach an.
»Und?«, rief Rusty hoch.
»Schrott. Schau’ es dir selbst an«, sagte Neal und rutschte wieder herunter.
Rusty reichte die »Einkaufstasche Cayo« wieder an den Vater zurück und kletterte den gleichen Weg. Für ihn kein Ding, denn er machte Ausgleichsgymnastik, um fit zu sein.
»Hast recht. Eine Dachleiche«, bestätigte er.
Sie rütteln an den Türen, schauen sich die Bausubstanz an, kritisch, unüberzeugt.
»Ich lasse die Finger davon, was meinst du?«, fragte Rusty. »Außerdem gefällt es mir nicht. Ist doch nur eine Halle und eine kaputte Landebahn. Hat kein Stil, kein Ambiente, kein nichts.«
»Aber Flieger!«, bedachte Neal. Er rief die Hunde zu sich. »Zahlst Lime einen symbolischer Dollar, darauf lässt er sich sicherlich ein. Ich fahre sie dann mit einem Sattelschlepper weg. Also mir gefiele das.«
»Logisch«, tönte Rusty.
»Zeigst du mir jetzt die anderen Objekte? Es gibt doch andere, oder hast du keine Zeit?«
Rusty strahlte. »Für dich und mich habe ich den ganzen Tag Zeit – bis ich die Kiddies aus der Schule holen muss.«
»Dann tun wir das«, lächelte Neal. »Wenn ich dir meine Meinung sagen soll, möchte ich alles wissen.«
Sie sahen einander wild an. Zwei, die sich schon seit ihrer frühesten Kindheit kannten. Die als Schüler Unfug ausgeheckten, als Jugendliche aus dem Juvie »Visions Camp« ausbrachen und zwei Jahre gemeinsam auf der Straße lebten, wo sie sich als Diebe und Dealer über Wasser hielten. Eine wüste Zeit. Dann waren sie eigene Wege gegangen — und doch waren sie die gleichen von früher geblieben. Der eine ein wilder Mann vom mexikanischen Widerstand, der andere ein wilder Pilot und mutiger Haudegen, der Wissenschaftler in die abgelegensten Naturreservate flog und auf Nussschalen landete. Beide waren kühle Techniker und Organisatoren, die ihre Wege und Mittel kannten. Sie stiegen in den Trailblazer und fuhren weiter.
***
»Zwei weitere Objekte gibt’s«, erzählte Rusty. »Eines ist echt prima, aber ziemlich hinüber. Hängt ein Hotel dran. Zehn, fünfzehn Zimmer. Und weißt du was? Lilly hat sich darin echt verliebt. — Sie würde gerne ihren Job als Übersetzerin aufgeben und in die Hotelbranche einsteigen.«
»Und du möchtest ihr den Wunsch erfüllen?«
»Den utopischen Wunsch erfüllen?«, fragte Rusty.
»Ich bin der Held der Utopien«, lachte Neal freundlich. »Zeige es mir.«
Sie fuhren in entgegengesetzter Richtung weiter. Diesmal waren die Berghänge nicht mehr zu ihrer Linken sondern auf ihrer rechten Seite. Ein sanftes Sonnenlicht tauchte die Konturen in ungewöhnlich kräftige Farben, die sich deutlich vom strahlend blauen Himmel absetzen. Doch auf anderen Seite erwartete sie eine weite Ebene bis zum Horizont.
»Ein schönes Stück Heimat«, sagte Neal bewundernd.
»Heimat?«, fragte Rusty. »Ich habe ganz Amerika aus der Luft gesehen, bevor ich hierhin zurückkehrte. Freiheit ist mir wichtiger als Heimat. Ist nicht mehr als eine Notwendigkeit, dass wir hier wohnen. Gibt’s woanders mehr Freiheit, sind wir weg. Schätze Troy würde hier bleiben — aber Lilly und ich? Nein. Easy Rider und Red Hook für immer.«
»Denkst wie ich, Rusty«, lächelte Neal und warf dem Freund einen stolzen Blick zu.
Eine gute Dreiviertelstunde später parkten sie vor dem zweiten leerstehenden Komplex. Stahlhalle und Rollfeld wie jede. Aber dahinter lag ein ehemaliges Hotel, ganz aus Holz und rotem Backstein. Es wirkte wie ein altes Fort aus Gründerzeiten. Leider wenig heroisch, ziemlich unwirtlich sogar. Die Fenster waren zugenagelt und die Türen verriegelt. Schrott und Staub überall. Nur die hohen, alten Bäume gaben dem Objekt etwas von seiner herrschaftlichen Würde zurück.
Sie blieben im Trailblazer sitzen, renovierten das Anwesen im Geiste und bauten daraus ihr eigenes Schloss. Rusty sah ein altes Fort mit dem antiquierten Schriftzug Saloon und Neal Tomahawk-schwingende Indianer auf bunten Pferden und Soldaten, die auf den Holzzinnen standen und schossen. Rusty baute Ferienressort und Fluglinie, Neal stellte friedliche grasende Wildpferde auf die Traumwiese. Dann kamen sie zurück in die Realität und stiegen aus, Türen geöffnet.
»Es ist völlig herunter, aber trotzdem schier unerschwinglich teuer, denn es hängt ein Batzen Land dran«, erklärte Rusty. »Soviel verdient man in meinem Job nicht. Aber ist es nicht herrlich? Gib zu: Es hat etwas: Ausflüge in die Natur, ein kleines Hotel. Nur der aufgesetzte Westernstyle — yikes! Es sieht eher bäuerlich aus, findest du nicht?«
»Muss ja nicht so bleiben. Lass uns mal außen herum laufen.« Neal ließ Jiva, Basker und Pabolo aus dem Wagen heraus.
»Es kostet soviel wie das andere?«
»Sagte ich, ja. Meinte ich natürlich nicht. Selbstbetrug, um es schöner zu reden. Die Renovierungskosten sprengen jeden erträglichen Rahmen: Heizung, Sanitäranlagen, Dach, Wasseranschluss. Alles hinüber.«
Sie wanderten um den Gebäudekomplex, während Pabolo, Jiva und Basker gemeinsam stromerten. Neal hielt Bou-Bou an der Leine und trug Cayo auf dem Arm.
Der Komplex lag herrlich. Im Hintergrund die Silhouette der ansteigenden Berge, links der leicht hügelige Wald. Eine einmalige Aura. Plötzlich stießen sie sogar auf einen romantischen Natursee, der wie ein Traum ins Gelände eingebettet war. Sie wanderten zum See.
»Wow!«, rief Neal spontan. »Und du willst diese andere Kaschemme kaufen?«
Rusty zuckte mit den Schultern.
»Wollte ich nicht, dachte aber, es wäre vernünftiger.«
»Papperlapapp! Nimm das hier!«
»Echt.«
»Logisch. Wenn du eine vernünftige Entscheidung hören willst, hättest du nicht mich mitnehmen sollen.«
Rusty lächelte.
»Das wollte ich hören. Die visionäre Meinung von einem mutigen Freund, der im Morgen denkt und ein echtes Wagnis eingeht. Also gut! Sage mir, was du tust.«
Neal lächelte zurück.
»Wir kaufen Lime die schrottreifen Flieger ab. Symbolischer Wert einen Dollar. Wir bauen sie auseinander und hier wieder zusammen. Wenn du mal Geld gemacht hast, polierst du sie schick auf, dann hast du gleich einen magnetischen Anziehungspunkt für deine zukünftigen Abenteuer-Hotelgäste. Dann schauen wir, dass wir den Rest flott kriegen.«
»Du denkst auch nicht unten oder? Und wie?«
»Wir verputzen das hässliche rote Mauerwerk im Stile der Pueblos und streichen es goldbraun an. Diese spießige Saloon-Bretteroptik verkleiden wir mit wuchtigen Holzkonstruktionen. Blühpflanzen, Ranken, kunstvolle Tonfliesen — und innen das gleiche. Sichtbare Balken, indigene Webteppiche, schmiedeeiserne Dekors, urige Ledersessel, handgeschnitzte Türen licht wie eine Gardine und so weiter und so fort.«
Rusty ließ sich von der Begeisterung Neals anstecken.
»Du kannst Gedanken lesen. In Santa Fé gibt’s ein Luxushotel, die haben es auch so gemacht. Ein Restaurant möchte ich übrigens auch haben.«
»Eigener Koch und Spüldienst«, grinste Neal.
»Logisch, genial ideal. Wir sind doch Amerikaner, Pioniere! Die ersten Siedler wären nie mit den Wagentrecks Richtung Westen gezogen, wenn sie so wie Bren wären.«
»Und wie viel Kapital fehlt dir?«
»Geschätzt zweihunderttausend, wenn wir es renovieren.«
»Yikes«, stöhnte Neal. »Das ist wirklich kein Kleingeld.«
Sie blieben vor dem See stehen und träumten gemeinsam ins Wasser. Er war groß, dunkel, urig, irgendwie verwunschen. Schilf an den Rändern. Es war ein See, wie er immer in den Märchenbüchern gemalt war, einer aus dem ein Froschkönig sprang. Die Bäume auf seiner Westflanke hatten Stämme wie Weinfässer und Kronen wie ein Zirkuszelt. Natur und Stille. Wasserläufer perlten zwischen den Binsen, Mücken tanzten darüber.
Die Freunde setzten sich in die Wiese und genossen die Stimmung. Neal zog sein Kapuzensweatshirt aus, legte es auf den Boden und bettete Cayo darauf. Rusty warf einen Blick auf das Quetzal-Tattoo mit seinen langen, leuchtenden Schwanzfedern und dem eleganten Kopf: Feuriges Rot, warmes Gelb und Orange dazu Smaragdgrün, Türkis und Purpurviolett. Rusty hatte es nie zuvor gesehen. Er wagte nicht zu fragen, doch er ahnte, dass es eine tiefe Bewandtnis hatte.
»Weißt du noch wir am Ontariosee?«, erkundigte er sich stattdessen. »Damals bedankte ich mich, weil du uns überredest hast, aus dem Juvie zu türmen. Seitdem weiß ich, wie sich Freiheit anfühlt. Ich lebe die gesellschaftlichen Konventionen, doch in meinem Kopf ist die Anarchie geblieben.«
Neal pfiff noch einmal nach den Hunden; er hatte noch nie einen Hund besessen, der nicht wilderte. Bou-Bou zappelte an seiner Leine, weil er mit ihnen stromern wollte.
»F**cking curs!«, grummelte Neal seinen Lieblingsspruch. Er verdrehte die Augen. »Dieser zappelige Minihund, den mir Mom Bron schenkte ist lebhafter als zehn Hunde.«
»Dein Tattoo?«, fragte Rusty doch. »Es wirkt so echt, als würde der Vogel leben.«
»Er lebt auch«, sagte Neal leise, dann tat er es ab und fügte sachlicher an: »Es ist ein Quetzal, ein Regenwaldvogel. Er ist der Inbegriff von Freiheit, von Mut und Anmut. — Ein indigener Künstler aus dem Lacandon hat das Tattoo gefertigt. Er lebte Ewigkeiten im Regenwald und kannte die Vögel wie kein anderer. Er starb vor sechs Jahren und fertigte einunddreißig Quetzale. Ich bekam den letzten.«
Hass und Trauer in Neals Stimme, als er an seine Mariañaca dachte. Rusty sah dessen ernste Blicke und schwieg. Er wollte ihn nicht bedrängen und wechselte das Thema. Sie plauderten ein wenig und spazierten irgendwann langsam zum Trailblazer zurück.
Rusty nahm das Thema Hotel wieder auf.
»Ich überlegte, unseren Ö kogedanken hier weiterzuführen. Das Anwesen ist nicht allzu weit von Connelwalky entfernt. Angrenzende Gebiete sind für den Naturschutz geeignet: Cuckoo Heights und Crystalline Valley; halbschräg liegt das Dazzle Creek Valley und danach folgt das Gebiet um den Fairmont-Hill, Danbo und die Cascades.«
»Gehört das alles nicht schon zu Idale?«
»Crystalline und Cascades nicht, aber Dazzle, Danbo und Fairmont-Hill, so wie schon früher auch. Fairmont und Danbo sind Wald- und Wiesenareale, in denen viele Wildtiere leben und Dazzle Creek Valley ist, wie du sicher noch weißt, teilweise ein Sumpfgebiet. Drakes lässt darauf seine Rinder weiden. Bren hat ihn mehrmals ermahnt etwas für den Naturschutz auf seinen Ländereien zu tun, aber Drakes hört auf dem Ohr nicht, weil er nur seinen Profit sieht.«
»So sah Oliver mir auch aus: Bruce Drakes II«, sagte Neal verachtend.
Rusty nickte.
»Nun, ich würde es ihm abkaufen, wenn ich’s Geld hätte. Aber der Drakes und ich, das ist ein Dauerkrieg seit zwanzig Jahren. Wenn der hört, dass ich ein Stück Land von ihm kaufen will, dann verschenkt das lieber an die Wohlfahrt, selbst wenn er pleite ist.« Er lachte leise und schüttelte seinen Kopf. »Ach! Tagträumereien, aber weißt du was, Neal? Ich träume gerne. Du hörst mir wenigstens zu. Wenn ich es meine Eltern erzählte, schimpfen die mich als leichtsinnig und Bren hält mich für größenwahnsinnig.«
Neal grinste kess.
»Bren hält jeden für größenwahnsinnig, der mehr als zehn Puddings kauft.«
Er rief die drei Hunde und schob die Leine von Bou-Bou zur Seite, damit er nicht stolperte.
»Idale?«
»Ist nur eine Frage der Zeit, wann Oliver verkauft und sich ganz nach Paris absetzt. Dann kommen die Investoren nach Connelwalky wie ein Heuschreckenschwarm und holzen alles ab, wetten!«
»Für Oliver war das hier nie eine Heimat.«
»Für dich auch nicht.«
»Du täuscht dich, irgendwie schon«, entgegnete Neal. »Wenn ich Connelwalky verachte, liegt es an den Menschen, aber nicht am Land. Das Land ist meine Heimat und bedeutet mir auf gewisse Art und Weise etwas. Mehr bedeutet es mir allerdings, die Natur gegen solche Ignoranten wie Oliver zu verteidigen. Vergiss nicht, dass Susana und ich in Nordmexiko ein Naturschutzgebiet kauften: Ein echtes Stück Wüste, quasi.«
Rusty schaute einen Moment verwundert. Dann blickte er noch einmal über das Gelände.
»Habt ihr? Und was schwebte dir vor, wenn du das Geld hättest?«
Neal lachte leise.
»Hier? Drakes die Ländereien abnehmen, Wildpferde schützen. Wildtiere schützen. Gebiete renaturieren. Weniger Rinder, dafür Hotel & Ranching.«
»Überlegte ich auch. Meine Fluggesellschaft in spe ist durchaus flexibel, meine Geldbörse nicht. Alles utopisch.«
Es grunzte in ihrer Nähe. Die drei Hunde stürmten los und bellten.
Neal pfiff sie zurück und schaute verunsichert zu Rusty.
»Schweine?«
»Verwilderte Hausschweine. Stören mich nicht.«
»Verwilderte Hausschweine. Ieh! Ist das exotisch.«
»Der Eigentümer meinte, ich solle sie einfangen und …«
Neals Blick sagte alles und Rustys vielsagender Blick ebenfalls.
»Alle wollen immer die lieben Schweinchen aufessen. Ich nicht. Von mir aus können sie hier weiterleben. Und wenn es wen stört – Pech!«
Neals grinste gutgelaunt.
»Abenteuerhotel mit Antikfliegern und Wildschweinen. Das ist das Beste, was ich je hörte.«
Sie schritten anders um das Anwesen herum. Nach hinten heraus lag eine Wildwiese mit Blick zum Teich, Wald und Berge; die waren noch immer in das warme, goldene Licht getaucht. An der Seite gab es eine Terrasse wie in den echten Westernstädten: Holzplanken mit einer Überdachung, die von Stützbalken getragen wurde. Sie sahen ein einziges, nicht verbarrikadiertes Fenster oben auf der ersten Etage. Neal legte Cayo in seiner Jacke auf die warmen Holzbretter und band Bou-Bou entfernt an. Dann schoben die alten Freunde ein altes Fass vor die Dachstützen und kletterten hinauf, um in den Innenraum zu schauen. Drinnen sah es wüst es. Eine Wand war eingestürzt, Tapeten hingen herab, der Holzboden war nahezu zerbombt.
»Ist eine Menge zu renovieren«, bestätigte Neal.
»Sieht so aus, als wäre es billiger, das abzureißen«, murmelte Rusty.
Dann sprangen sie wieder herab.
Unter der Veranda knarrte ein altes Metallschild im Wind; es hing an einer schaukelnden Kette, wie in den Geisterstädten. Neal drehte zu sich um und rieb den Staub fort.
»Holidays Inn hieß es. Wie würdest du es denn nennen?«
»So wie das Tal hier: Cotonine Valley, also Cotonina Inn.«
»Es klingt schön: Cotonina! Ja! Das hat was!«
Neal holte Sohn und Hund, dann spazieren sie zurück zum Trailblazer.
»Waren wir beide eigentlich früher innig befreundet?«, fragte Rusty.
Er öffnete die Laderampe vom Trailblazer, damit die drei großen Hunde hineinsprangen.
»Ich weiß nicht mehr. Es war eine andere Zeit, nicht?«
***
Sie schauten sich noch das dritte Objekt an, dann machten sie sich auf den Rückweg. Neal lud Rusty zu einem Kaffee ein und setzte das Wasser zum Kochen auf.
»Ich habe einen Freund in Kolumbien, der dir vielleicht zweihundert Millionen Peso dazugeben könnte, falls dein Geld für eine Anzahlung nicht reicht«, bemerkte Neal noch während das Wasser langsam zu brodeln begann. »Im Gegenzug lässt du mich bei dir auf Cotonina wohnen.«
»Zweihundert Millionen Peso! Hört sich an wie eine Hotelanlage für tausend Gäste … hm … Lass’ mich raten: Der Wechselkurs liegt bei …«
»1:2000 oder so. Mein Freund schuldet mir noch umgerechnet sechzigtausend Dollar.«
Rusty schaute sich zweifelnd in dem ärmlichen Haus um.
»Brauchst du es nicht besser selbst?«
»Nach dem 27. Juli. ist alles anders«, sagte Neal knapp.
Als Rusty des Freundes Gesicht sah, nickte er sein Einverständnis ohne weiteren Kommentar ab.
»Kolumbien?«, fragte er kritisch. Sein Blick sagte alles.
»Nein, keine Drogen. Sehe ich aus, als wollte ich meine Visionen gegen eine Gefängniszelle eintauschen?«, sagte Neal kurz. »Ich bin Kaufmann, kein Dieb oder Betrüger. Außerdem bin ich für schnelle Entscheidungen und nicht für lange Pläne. Meine Zeit ist begrenzt. Und hier in den Staaten ohnehin.«
Rusty nickte.
»Ich spreche es mit Lilly durch. Schätze, wir werden den Kaufvertrag zeichnen. Wenn wir dann ans Renovieren gehen, nehme ich dein Angebot an.«
Ende der Leseprobe
Alle im Buch befindlichen Handlungen, Namen und Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, Namen oder Handlungen sind unbeabsichtigt und rein zufällig. Städte und Landschaften beugen sich der Fiktion.
bedeutet »Im Nebel«. Der Begriff entstammt dem Tarahumara, einer Sprache der First Nations aus Chihuahua in Mexiko. 📓 Die Übersetzung ist aus dem Diccionario Tarahumara de Samachique von K. Simon Hiltón und wurde vom El Instituto Lingüístico de Verano und SIL zur Verfügung gestellt. Die Lizenz ist unter „FAIR USE”. Vielen Dank!
L. Cerón wird Ihnen präsentiert von Studio Eskamotage — Kunst und Kapricen. Besuchen Sie unsere anderen Künstler: