Bimorítari

Leseprobe

Der Phönix aus Phoenix. Flucht zurück in die Staaten, in die alte Heimat. Wieder mal ohne Geld und Zukunft. Doch eine Hütte in Hillside wird zur neuen Revolutionszentrale.

Was bisher geschah

Neal flüchtet nach dem Attentat mit seiner Familie ins US-amerikanische Exil. Er ist mittellos und wird von den Brüdern Santanders gejagt. Die Staatsanwaltschaft Mexikos hetzt ihn, weil sie ihn wegen Terrorismus inhaftieren möchte. Neal beißt sich durch. Er kontaktiert mit seinen alten Freunden aus dem Ö kodorf und nimmt einen Job als Hilfswildhüter an. Die ahnen nichts von seinen Problemem und halten ihn für einen Waldschrat, der mit seinem Leben nicht klar kommt. Unbeirrt organisiert Neal eine Pressekonferenz und den Prozess der Mariañaca.


III Unter Druck

Kapitel 38: Massacre de Mayran

Café Renegado, Ciudad de México

Das vereinbarte Treffen mit der Oniseane fand früh am kommenden Tag im Café Renegado statt, einem amerikanisch angehauchten Lokal in einem belebten Außenviertel der Hauptstadt. Neal dachte an ein Zitat:

Ein Renegat hasst Leben. Er sucht den Tod des Lebens.
Ebenso wie Reformer und Idealisten die Freiheit glorifizieren.
Sie bringen ihre Ziele nur voran, weil sie Todesvögel sind.1

Nicht nur das Team Oniseane erschien, sondern überraschenderweise auch der Polizeichef Apolino Palacios, Staatsanwalt Melesio Muñoz und die Richterin Juana Adela Manjarrez. Letztere war eine medienbekannte Persönlichkeit Ende fünfzig mit grauem Haar und energischem Auftreten. Sie erschien mit ihrem eigenen Bodyguard und machte keinen Hehl daraus, wie gefährdet sie wirklich war.

Neal reagierte höchst überrascht. Warum hat die Oniseane mir das nicht angekündigt?

Es gab kein Vorgespräch sondern einen direkten Einstieg, noch bevor die Kaffeetassen auf dem Tisch standen. Sie tauschten die Adressen aus. Julia Manjarrez nahm ein kritisches Wort auf.

»Mein liebes Team Oniseane! Ich schätze seit Jahren ihre Professionalität. Doch nun muss ich sie scharf rügen. Warum haben sie sich schon jetzt an die Presse gewendet? Das war völlig verfrüht, ich möchte sogar sagen ein eklatanter Fehler. Dieser Fall durfte noch nicht an die Ö ffentlichkeit. Sie hätten mich zuvor über diesen Schritt informieren müssen, denn ich beabsichtigte diesen Fall anders aufzuarbeiten.«

»Das teilte ich ihnen mit«, verteidigte sich Patrocinio Mazariegos. »Wir redeten offensichtlich aneinander vorbei.«

»Und das darf in einem solchen Fall nicht passieren«, konterte Julia Manjarrez. »Mesino und ich kamen zum Schluss, dass der Fall Mariañaca nur eine untergeordnete Rolle spielt. Für uns geht es um die ASEM2 und ihre Verbindungen zum Drogenkartell Péncamas. Nur wenn wir die ASEM enttarnen, können wir den Fall Mariañaca aufdecken. Durch ihre voreilige Vorgehensweise ist die ASEM nunmehr gewarnt. Machen sie doch nicht den gleichen Fehler wie die Mariañaca, das können wir uns nicht erlauben.«

Neal lauschte verärgert. Na prima! Meine Mariañaca als Spielball und ich sitze hier wie ein Bittsteller. Er spielte mit dem Gedanken aufzustehen und zu gehen.

Patrocinio Mazariegos sah es und lenkte ein.

»Señor Chichitzeca! Ich heiße sie in unserer Aktionsgruppe willkommen! Entschuldigen sie das überbordend zynische Temperament von señora Manjarrez. Wir beschlossen, den Fall Mariañaca vs. ASEM vs. Santander zu einem Politikum zu machen, und da sieht sie hinter jeder Ecke Küstenwölfe.«

Staatsanwalt Mesino Muñoz nickte ebenso entschlossen in die Runde. Er legte Neal einige Dokumente in mehrfacher Ausfertigung zur Unterschrift vor.

»Señor Chichitzeca! Hiermit stellen wir, dass heißt stellen sie, einen Prozessantrag in Spanien, falls die Mariañaca den Prozess hier verlieren wird, was wahrscheinlich ist. Mit diesem Antrag wahren wir sämtliche Fristen zur Beweisführung und erlangen somit die Möglichkeit, den Prozess vom Ausland aus aufzurollen. Das könnte zwar einige Jahre in Anspruch nehmen, aber es ist der einzige zuverlässige Weg, den wir sehen, sobald hier sämtliche Rechtsmittel versagen.«

Neal überflog den Text; er hatte Dutzende ähnlicher Anträge bereits in der Hand gehabt. Gleichzeitig unterdrückte er das Gefühl alles einnehmender Resignation.

»Das heißt, sie geben dem Prozess hier keine Chance, weil die Gegenbeweise doch nicht ausreichen? Ich dachte señor Palacios könnte eine aussagekräftige Zeugenaussage abgeben, die ...«

Die Richterin Manjarrez überging seine Frage und unterbrach, wenn auch freundlich.

»Es geht um Terrorismus und Massenmord. Wir können ein neutrales Gerichtsverfahren in unserem Land unter den gegebenen Voraussetzungen nicht erwarten. Erst müssen wir die Vorsitzenden der ASEM3 absetzen oder das Péncamas vernichten. Vorab: Ich möchte, dass sie, señor Chichitzeca, ihren Anwalt Cano de Gortari NICHT über diese Gesprächsrunde und die hier besprochene Vorgehensweise informieren. Sie kennen uns nicht und haben uns NIE gesehen.«

Sie betonte es mit strengen Blick.

Neal warf den Blick zurück und wurde einen kurzen Moment in seine Vergangenheit geworfen. Sieben Jahre zuvor zitterte ich beim Gedanken an Richter und wollte nur wie ein verletztes Raubtier flüchten. Nun sitze ich mit einer Richterin auf Augenhöhe am Tisch, die mehr Schlagzeilen in der Presse hat als der Präsident von Mexiko. Und ich muss ihr kontern, wenn ihre Entscheidungen gegen das Wohl der Mariañaca sind.

Alfonso und sein Amtskollege hatten sich am Fenster positioniert, um die Straße zu beobachten. Zum Kaffee wurde Gebäck serviert. Es sah lecker aus, doch keiner würdigte es. Neals Blicke schweiften durch den Raum und wieder zurück zu seinen Gesprächspartnern. Er versuchte ihre Gesichter zu lesen, vielleicht auch ein wenig Halt in ihnen zu finden.

Doch vergebens. Hier im Renegado traf sich ein Team von Einzelkämpfern, die sich entschieden hatten, für ihren Widerstand zu sterben. Die Stimmung kam herüber. Kalte Profis, die Mut nicht lernen mussten, weil sie ohne ihn nicht arbeiten konnten. Die Diskussionen gingen weiter.

Manjarrez [hat ein Auftreten, dass jeden an die Wand drückt]: »Señor Chichitzeca. Was dachten sich ihre Herren und Damen Doktoren überhaupt bei dieser infantilen Anschlagsplanung? Nennen wir es Überarbeitung, dass ein routiniertes Team derart hysterische Entscheidungen traf.«

Neal: »Sinn dieser Sprengstoff-Simulation war einen Maulwurf innerhalb unserer Organisation aufzudecken.«

Richterin Manjarrez: »Señor Chichitzeca! Ihre ehrenhafte Lüge hat nur vor Gericht bestand, nicht vor mir. Ich habe mit Ricardo ausreichend diskutiert. Lassen wir es dabei bewenden. — Ich erläutere kurz unsere Entscheidungen. Wir behalten ihre These bei. Sie wollten einen Maulwurf enttarnen, der für die ASEM spionierte. Dieser Plan wurde von der ASEM unterlaufen und vom Péncamas in die Realität umgesetzt. Zweck war, ihnen Terrorismus unterzuschieben und ihre Mitglieder gezielt zu ermorden, damit sie der ASEM nicht zu nahe kommen. So die offizielle Version, die señor Mazariegos in Spanien einreicht. Unser übergeordnetes Ziel ist, die jetzige Führung ASEM zu zerschlagen und das Péncamas zu schwächen. Gehen sie damit konform, señor Chichitzeca?«

Neal [abwägend]]: »Meinen Unterlagen zufolge ja.«

Staatsanwalt Muñoz: »Stellen sie mir bitte all ihre Unterlagen zur Verfügung, señor Chichitzeca. Sie erhalten von uns das E-Mail-Konto unseres Netzwerks. Mehrere Personen, die sie nicht kennen, haben darauf Zugriff. Seien sie versichert, dass immer eine dieser Personen aktiv werden kann, falls jemanden uns hier etwas zustößt.«

Richterin Manjarrez: »Wir rechnen mit einer Dauer von fünf Jahren, falls — und davon gehe ich aus — der Prozess jetzt verloren geht.«

Staatsanwalt Muñoz: »Sie haben einen Vertreter, der die Belange regelt, falls ihnen etwas zustößt, señor Chichitzeca?«

Neal schüttelte verneinend den Kopf.

Staatsanwalt Muñoz: »Sie präsentieren uns binnen Zweiwochenfrist eine Person, die ihre Aufgaben im Falle ihrer Ermordung übernimmt. Unabhängig davon verpflichte ich sie, jegliche Schritte in dieser Angelegenheit mit uns abzuklären. Sie werden so tätig, wie wir es entscheiden oder wir sehen davon ab, uns für die Mariañaca einzusetzen.«

Neal schaute aus dem Fenster. Ric ... Manjarrez ... Muñoz ... Oniseane ... ASEM! Ric hätte mich informieren müssen, welche Kontakte er wirklich hat und welche Ziele seine Kontakte verfolgen. Sie alle hätten mich darauf vorbereiten sollen: Ric, Sergio, Iñigo, Nico ... Die Ausbildung habe ich nicht, diese Zusammenhänge juristisch zu durchblicken. Pasqual sollte hier sitzen, Dr. Ramón, Joaquin. Nicht ich.

Victoria Castillerjos [sieht seinen skeptischen Blick und lächelt gutmütig]: »Sie werden das schon schaffen. Wir geben ihnen die passenden Instruktionen, um sich in die Zusammenhänge einzuarbeiten. Fünf Jahre? Reicht ihnen das etwa nicht?«

Consuelo Figueroa: »Es ist, wie señora Manjarrez sagte: Die Mariañaca hatte ein falsches Team zur falschen Zeit. Aber sie sehen ja, dass auch wir, die Oniseane Fehler machten, als wir an die Ö ffentlichkeit gingen, um diesen Fall aufzurollen wie jeden anderen. Dieser Fall ist nicht wie jeder andere. Das erfuhren wir leider auch zu spät, nicht wahr, señora Manjarrez? Ihr Fehler, uns nicht im Vorfeld aufzuklären! Weitere Missverständnisse darf es nicht zwischen uns geben.«

Neal war klar, dass dieses Treffen nur eine Momentaufnahme war. Mächte im Hintergrund wollten die Mariañaca instrumentalisieren, um gegen die Hintermänner der ASEM anzugehen. Ein Politikum, nicht mehr. Wusste Ric das, arbeitete er daran? Ich werde seine Tagebucheinträge nach diesen Informationen anders lesen müssen. Lasse ich mich auf das Spiel ein? Ja. Es ist auch nur eine Option im Kampf gegen unsere Feinde.

Die Richterin griff seinen offensichtlichen Gedanken auf.

Richterin Manjarrez: »Halten wir fest, señor Chichitzeca, dass es sich hierbei lediglich um ein mögliches Szenario handelt, das wir nun in die Wege leiten. Sollten sie vom Obersten Richter Basilio Franco am 27. Juli des Hochverrats schuldig gesprochen werden, wird unsere Kooperation nicht stattfinden. Sollte während der Verhandlung ihre aktive Teilnahme an der Planung dieses Anschlags festgestellt werden, sind sie für uns ebenfalls kein Partner. Wir wollen sie ins Rampenlicht stellen, aber wir sind nicht die, die einen Rettungsreif auswerfen, weil sie nicht schwimmen können.«

Sie macht aus mir eine Marionette! Aber ich schweige. Für meine Freunde! Wir brauchen jeden Strohhalm. Die Besprechung zerrte an Neals angegriffenen Nerven. Ich habe gedacht, ich fahre zu einer netten Unterhaltung mit der Oniseane und sie stellen mich an die Wand! Ich muss nach ihren Regeln spielen, doch sie helfen mir nicht. Prima!

***

Hauptstraße zur Stadtautobahn

Nach mehr als fünf Stunden war die Verhandlung beendet. Im losen Konvoi verließen sie das Café Renegado und fuhren auf der Hauptstraße zur Stadtautobahn. Es war eine kerzengerade, breite Straße, zweispurig ohne Gegenverkehr, mäßig befahren. Plötzlich geriet der Konvoi in einen Hinterhalt. Sechs Autos lauerten vor einer improvisierten Straßensperre. Vermummte Bewaffnete eröffneten sofort das Feuer. Der gepanzerte Wagen der Richterin durchbrach mit ruhiger Souveränität die Straßensperre und schob die parkenden Wagen gewaltsam zur Seite. Zwei Wagen nahmen ihre Verfolgung auf. Doch einer wurde durch Schüsse gestoppt, stellte sich quer und blockierte die Durchfahrt.

Die beiden Polizeistreifen, die den Polizeichef auf Motorrädern begleiteten, erwiderten das Feuer. Doch ihre Bewaffnung reichte nicht gegen die Schnellfeuerwaffen der Angreifer. Sie stürzen. Sie suchen Deckung. Ein ziviler Einsatzwagen rauschte aus dem Nichts heran, bremste quietschend und eröffnete ebenfalls das Feuer. Die anderen Wagen wurden ins Geschehen hineingezogen. Chaos brach aus. Inzwischen rasten weitere Angreifer herbei und nahmen den Konvoi ins Kreuzfeuer.

Julio Toledano, der Kameramann der Oniseane, filmte mit seiner Kamera das Geschehen. Guillermo Ballin, der Investigativjournalist, fuhr Vollgas rückwärts, wendete, schleuderte und flüchtete über den Seitenstreifen. Er wurde gestoppt, denn ein weiterer Angreifer raste von hinten herbei und versperrte ihnen den Weg. Die beiden Aktivisten der Oniseane sprangen aus ihrem Wagen und flüchteten zu Fuß den Abhang herunter, hinein ins Gebüsch.

Noch mehr Chaos brach aus. Weitere Wagen rauschten heran, Freund und Feind. Schüsse fielen. Menschen flüchteten schreiend in ein kleines Waldstück. Die Schnellfeuerwaffen schossen Salven ins allgegenwärtige Entsetzen.

Alfonso machte eine Vollbremsung. Neal rutschte im Sitz durch. Alfonso zog seine Maschinenpistole unter dem Sitz hervor, hängte sich aus dem geöffneten Beifahrerfenster und schoss. Er hielt die Angreifer fern, doch sie schossen zurück.

Neal überlegte wohin. Die Lage war unübersichtlich. Vorne waren die Wagen ineinander verkeilt, dazwischen Schüsse. Blut floss. Verletzte krümmten sich. Tote lagen auf den Straße und in den Autos. Zerschossene Fenster, platte Reifen. Rauch. Wohin?

Neal schaute sich um. Von hinten stoben immer mehr Angreifer herbei. Er musste nach vorne fliehen. Durch die Lücke, die sich Julia Manjarrez gefahren hatte. Sie war zu knapp geworden, denn davor standen einige Autos quer. Egal. Er gab dosiert Vollgas. Die Reifen drehten durch. Er preschte auf die Front querstehender Wagen, direkt auf die Mündungsfeuer der Maschinengewehrsalven zu. Noch mehr Gas. Er karambolierte mit einem Wagen und schob ihn zur Seite. Das entsetzliche Geräusch des aufeinanderprallenden Metalls mischte sich mit den Geräuschen des Straßenkrieges. Dabei schleuderte Neal bis auf den Seitenstreifen. Durchbruch. Geschafft. Neal gab auf dem Seitenstreifen Vollgas und schleuderte auf die Straße zurück.

Ihn verfolgte ein Wagen in Höchstgeschwindigkeit. Aus dem Fenster lehnte sich ein maskierter Gangster und schoss mit seiner Maschinenpistole. Schüsse peitschten um ihren Wagen, manche trafen. Alfonso schoss zurück. Gut, dass er so viele Reservemagazine griffbereit hatte. Er traf. Der Verfolgerwagen schleuderte und prallte gegen die Leitplanke. Gestoppt.

Noch während sie flüchteten, hörten sie die Sirenen eines Großaufgebots der Polizei. Sie schafften es nicht mehr, den Zubringer zu verlassen, denn zwei Polizeiwagen versperrten ihnen von vorne den Weg. Sie eröffneten das Feuer auf die vermummten Angreifer. Neal und Alfonso tauchten im Wageninneren ab.

Nach einer Zeit, die sich wie Stunden anfühlte, war es endlich vorbei. Krankenwagen näheren sich, Unfallhubschrauber, weitere Polizeieinheiten. Es gab viele Schwerverletzte und Tote.

Julio Toledano, der Kameramann der Oniseane, war leicht verletzt davongekommen. Guillermo Ballin, der Investigativjournalist der Oniseane, war schwer verletzt. Er wurde notärztlich versorgt und in die Klinik geflogen. Staatsanwalt Melesio Muñoz und Polizeichef Apolino Palacios waren im Kugelhagel gestorben.

Ebenfalls getötet waren die beiden Motorradpolizisten, die Einsatzkräfte im Zivilwagen, zwei weitere Polizisten sowie fünf unbeteiligte Zivilisten, deren Wagen in das Geschehen hineingeraten waren. Dreizehn Tote auf ihrer Seite. Elf Tote auf Seiten der Angreifer. Insgesamt gab es weitere dreiundzwanzig Schwerverletzte, unter ihnen auch Victoria Castillerjos, die Gewerkschaftlerin der Oniseane. Sie wurde ebenfalls mit einem Hubschrauber ins Krankenhaus transportiert. Vierzehn Angreifer wurden verhaftet, neun waren flüchtig.

Neal und Alfonso gaben eine Zeugenaussage ab. Die Polizei nahm ihre Personalien auf. Schließlich verließen sie den Ort des Schreckens. Ihr dunkelroter Passat wies Einschusslöcher auf, und seine Scheiben waren zerborsten. Der Motor war getroffen worden. Sie standen unter Schock. Den Passat fuhr noch auf zwei Zylindern und schaffte es gerade zurück auf den Schrottplatz von Ciudad Valles. Es gab Ärger wegen dessen Zustand, doch sie zeigten den Polizeibericht.

Neal versuchte seine Betäubung abzulegen. Was dachte ich nur wenige Stunden zuvor: Will ich kämpfen? Ja, für die Gerechtigkeit aber nicht ums Überleben! Welch ein Hohn!

Wer entkam? Welcher Zepterträger fiel im Kampfe?
Leer sein Platz im Kreis der Oberen. Trauern wir!4.

Die Schreckensbilder wurden noch am gleichen Abend im Fernsehen gezeigt und gingen durch die Presse. Die Zahl der Toten hatte sich auf siebenundzwanzig erhöht, denn drei weitere Personen erlagen ihren schweren Verletzungen, unter ihnen auch Victoria Castillerjos. Die Presse sprach von einem bezahlten Auftragsmord. Sie benannte den Vorfall Massacre de Mayran.

Die Hintergründe wurden schnell medial ausgewalzt: Apolino Palacios, Melesio Muñoz, die Gruppe Oniseane und immer wieder der Name Mariañaca und Chichitzeca. Die Richterin Juana Adela Manjarrez erschien nicht in den Protokollen, denn niemand hatte ihre Anwesenheit dokumentiert. Spekulationen und Verschwörungstheorien füllen die Anzeigenblätter, noch während Neal als Baron de Pacheco y Carranza mit seinem amerikanischen Pass die US-Grenze unbemerkt passierte.

Manche Seelen sind vom Schicksal verdammt. Geboren fürs Fegefeuer.5

Arizona, USA

Neal war mit den Nerven am Ende, als er bei Grawley’s ankam. Sarah hatte das Geschehen in den Nachrichten verfolgt. Straßenkrieg mit siebenundzwanzig Toten. Der Name Chichitzeca war gefallen, Mariañaca. Sie, Ben und Julia hatten bereits mit Neal telefoniert. Doch auch sie konnten ihn nicht beruhigen. Sie holten ihn gemeinsam bei Grawley’ s ab.

»Neal!«, sagte Ben warmherzig und drücke ihn ganz lange. »Jetzt weißt du, warum ich dein Hufeisen nicht abhänge.«

Neal antwortete nicht. Seine Miene war eingefroren und irgendwie wollte sie auch nicht auftauen. Mehr sprachen sie darüber nicht. Neal war müde und froh, dass Ben ihn nach Heydey zurückbrachte.

***

Zuhause erwarteten Neal zwei Mails:

Patrocinio Mazariegos:
Ich werde vorgehen wie abgesprochen.
Juana Adele Manjarrez:
Wir müssen den Weg weitergehen! Sie wollten sie und uns.
Wir werden nachprüfen, wer über das Treffen informiert war.

Neal setzte sich auf die Terrasse und trank die halbvolle Flasche Whisky ganz leer. Er überlegte aufzugeben und zu flüchten, denn er fand, dass dies der einzige Weg war. Nein. Es ist nicht der einzige Weg, denn unsere Gegner werden nicht aufgeben. Jemand der flüchtet, wird gejagt. Jemand der gejagt wird, kann kopflos werden.

Die Kreuzigung zur Menschlichkeit ist vorüber.
Ihr habt versagt. Kehrt zurück in eure gewaltigen Elemente:
In die stürmische, unheimliche See oder ins Feuer. Basta.6

***

Am nächsten Tag wurden Julio Toledanos Videoaufzeichnungen der Ö ffentlichkeit präsentiert. Maskierte Auftragsmörder in gestohlenen Fahrzeugen in der Hauptstadt am helllichten Tag. Wieso konnte das passieren? Kommt es zu ordentlichen polizeilichen Ermittlungen? Wer bezahlte diesen Auftragsmord?

Consuelo Figueroa von der Oniseane, veröffentlichte einen langen Nachruf für Victoria Castillerjos, der in sämtlichen Tages- und Wochenzeitungen veröffentlicht wurde. Es war ein aufwühlender Text, der sich eindringlich in die Gemüter der Leser bohrte, weil er das ansprach, was jeden bewegte: Engagement und Mut in einer Welt der Drogenbarone, gelenkt von Korruption, Machtbesessenheit, Geldgier und impertinenter Dummheit. Consuelo Figueroa schloss ihren Nachruf mit einer freien Interpretation aus dem Film Der dritte Mann:

Und die den Krieg entfachen, lachen nur.
Ihnen bedeutet ein Leben soviel wie ein schwarzer Punkt am Horizont.

Die Oniseane beklagte ein Gründungsmitglied und eine gute Freundin. Die Gewerkschaftszeitung De Antemano sprach von dem tragischen Verlust einer engagierten Persönlichkeit die im Gefüge eines Sozialstaats unersetzlich war.

Neal erinnerte sich an die Diskussion im Renegado. Fünf Stunden hitzige Diskussionen auf Messers Schneide. Neun Personen. Drei waren erschossen worden. Trotzdem setzte er große Hoffnungen auf die Kooperation mit der Oniseane, denn nun teilten sie ihr Leid. In seine hehren Gedanken erschien ein neuer Feind.

Imagen del Tiempo
Autora Genara Barrientos
Chichitzeca von der Mariañaca — der Präsident des Terrors
Bedeutet es etwas Gutes, dass sich Xegua Quinatzin Chichitzeca, der Präsident der Terrororganisation Mariañaca, mit Mitgliedern der linksorientierten aufrührerischen Organisation Oniseane traf? Welche Rolle spielten Melesio Muñoz und Apolino Palacios in dieser Schmierenkomödie oder handelt es sich um eine Verschwörung zu einem Umsturz?
Wieder ein Massaker mit siebenundzwanzig Toten, während Chichitzeca unversehrt floh. Wo sein Name erscheint, explodieren Bomben und erscheinen Killerkommandos. Das ist doch kein Zufall. Dieses sollte das Gericht berücksichtigen, wenn es darüber entscheidet, ob die Mariañaca eine Terrororganisation ist.

Neal las es grollend. Natürlich bedeutet es etwas Gutes wenn ich irgendwo auftauche, du besch... sch... ...beutel! Aber welche Chance hatte er, wenn das Massaker von Mayran medial als Mariañaca-Terror verrissen wurde, wenn alle Menschen starben, die mit der Mariañaca Kontakt aufnahmen?

Neal wäre geflohen, wenn nicht seine Freunde in den Hochsicherheitsgefängnissen ihn gebraucht hätten. Ihre Blicke tanzten vor seinem geistigen Auge, und das alleine war genug Ansporn nicht aufzugeben.

Noch betäubt und unter Schock verrichtete er seine alltäglichen Arbeiten und erschien am darauffolgenden Tag mit Brownie bei Bren.

»Neal«, ermahnte dieser kritisch. »Was ist los mit dir? Du bleibst Tage weg und dann kommst du so apathisch zurück? Bist du krank? Mit dir kann man echt nichts anfangen.«

Neal antwortete er nicht, denn es interessierte ihn nicht.

There is no paradise.
Life stands not for continuous bliss.
Fight and laugh and fight again.
That is life.7

Ende der Leseprobe

Fußnoten

1Inspiriert von David Herbert Lawrence: Studies in Classic American Literature
2Agencia Seguridad de los Estados Unidos Mexicanos, fiktiver, mexikanischer Geheimdienst
3Agencia Seguridad de los Estados Unidos Mexicanos, fiktiver, mexikanischer Geheimdienst
4Inspiriert von Aischylos: Die Perser
5Inspiriert von David Herbert Lawrence: Studies in Classic American Literature
6Inspiriert von David Herbert Lawrence: Studies in Classic American Literature
7Inspiriert von David Herbert Lawrence: Studies in Classic American Literature

Anmerkung

Alle im Buch befindlichen Handlungen, Namen und Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, Namen oder Handlungen sind unbeabsichtigt und rein zufällig. Städte und Landschaften beugen sich der Fiktion.

Bimorítari

bedeutet »Im Nebel«. Der Begriff entstammt dem Tarahumara, einer Sprache der First Nations aus Chihuahua in Mexiko. 📓 Die Übersetzung ist aus dem Diccionario Tarahumara de Samachique von K. Simon Hiltón und wurde vom El Instituto Lingüístico de Verano und SIL zur Verfügung gestellt. Die Lizenz ist unter „FAIR USE”. Vielen Dank!