Suwá ist fertig und erscheint demnächst.
Neal lebt mit seiner Familie ein archaisches Leben in der Wüstensteppe von Chihuahua, ohne Strom und Wasser, fernab eines kleinen Dorfes. Geldnöte zwingen ihn nach Kolumbien. Dort hilft er der Bürgerrechtsbewegung Cachana, einen verschwundenen Reporter zu finden, der gegen das Drogenkartell von Gonzalo Santander aussagen möchte. Neal entscheidet sich, aktiv gegen die Brüder Santander zu kämpfen und gründet eine paramilitärische Gruppe an, die Überfälle auf Drogenlabore organisiert.
Keine Woche später hieß es dann: Aufbruch nach Quibdó. César, Neal und Plutarco fuhren auf gut ausgebauten Highways nach Quibdó. Der Kolumbianer gab richtig Gas, wie er es gerne tat. Wie meist mit ihm, mussten sie aufpassen, dass sie nicht in eine Radarfalle der Polizei gerieten und hatten kaum einen Blick auf die Landschaft.
Quibdó lag am Río Atrato. Die Stadt war bitterarm. Viele Hütten, eher Bretterverschläge, standen direkt am Wasser oder auf Pfählen im Wasser. Sie waren ziemlich improvisiert gebaut: ein wenig Stein, ein wenig Holz, ein wenig Farbe, Wellblechdächer. Stets hing Wäsche zum Trocknen. Dazu Plastik und Müll. Entweder hatte ihn keiner weggeräumt, oder der Fluss hatte ihn angeschwemmt, wie auch immer. Die Hütten waren so klein und der Fluss so breit, dass es wirkte, als würde sie jeden Moment von einer großen Welle weggespült werden.
Neal und Plutarco wurden an die Slums von Bogotá und Rio erinnert, nur dass in Quibdó quasi im Wasser stand, wie ein kleines Venedig. Der Fluss schien irgendwie höher als die Umgebung. Palmen säumten ihn. Schmale lange Transportboote dümpelten auf dem Wasser. Sie waren Einbäumen nachempfunden. Viele besaßen nicht einmal einen Motor. Überhaupt hatte das Wasser die Farbe eines trüben Himmels.
»Selten soviel Bretterverschläge gesehen!«, fluchte Plutarco auf Quechua. »’ne echt verlassene Gegend, wo der Hund vergraben ist.«
César verstand Quechua nicht und schaute ratlos nach hinten.
»It’s f*ck here«, übersetzte Neal halbherzig.
César grinste. Er mochte Amerikanisch sehr, auch die Flüche.
Sie durchquerten langsam die Innenstadt. Ein Gewitterhimmel zog über ihnen; es sah nach heftigem Schauer aus. Vierstöckige Häuser lagen auf ihrem Weg, ein Hochhaus dazwischen, ein Chaos von schlecht oder nicht asphaltierten Straßen. Es herrschte reger Verkehr. Räder, Mopeds, dreirädrige Kleinbusse. Kabel spannten sich über den Straßen, überall standen bunte Sonnenschirme. Aber selbst die Häuser in der Innenstadt sahen ebenso verfallen aus wie die am Fluss.
Neals Gedanken waren düster wie der Himmel über ihnen. Viel gesehen von der Welt. Das große Elend — dann, ich der Baron auf der Hacienda Felicidad im Rampenlicht der Schönheit — und nun wieder Elend! Ich habe Geld, aber es taugt nichts, denn mein Feind ist noch reicher und schiebt mich in eine Stadt, die nicht meine ist. Fortschritt! Natürlich wollen die Staatschefs Fortschritt. Aber warum beuten sie dann das Land aus und zerstören die Natur, für einen Fortschritt, von dem nur sie etwas haben, nicht die Menschen hier.
Sie ließen Quibdó hinter sich und fuhren auf einer Sandpiste weiter. Einige Meilen, dann sahen sie das Hinweisschild: Metalúrgico Quibdó. Sie bogen ab.
»Na! Zu viel versprochen?«, fragte César.
Nein, Sergio hatte wirklich nicht zu viel versprochen, denn der Komplex entsprach aller Vorstellungen. Er lag ruhig, versteckt, geschützt, absolut unauffällig. Die Lagerhalle sah aus wie jede andere auf der Welt. Es war ein grauer Kasten aus Stahlblech und Holz mit einem Dach aus Wellblech. Palmen, Dschungel, Wasser ringsum. Der lange Zufahrtsweg war matschig. Über manche Stellen hatte das Team Bretter gelegt, weil die Schlaglöcher tief und unpassierbar waren.
»Gefällt mir wirklich«, trällerte César übermütig und nahm mit seinem Wagen extra Schwung.
Gino und Sergio standen vor der Eingangstür des Büros, gleich neben der Lagerhalle, und unterhielten sich mit Salvador, Ezequiel und Rodrigo; sie warfen dem Auto nur einen gelangweilten Blick zu, nachdem sie erkannt hatten, wer darin saß.
Mit einer schwungvollen Drehung bremste César auf dem weiten Platz. Doch er kam nicht gleich zum Stehen, weil er noch immer zu schnell fuhr, und der Boden rutschig war. Sein Wagen schleuderte heftig. Er lenkte locker dagegen, doch es war zu spät. Sie rutschten bedrohlich nahe an die Hallenwand. Angst? Nein! César schaute unbewegt. Plutarco, den Haudegen schreckte es auch nicht. Er saß in der Mitte des Rücksitzes und hielt sich lediglich an der rechten Kopfstütze lose fest.
»Ay, César! Ñataq!1 «, tadelte er nahezu stoisch.
»Saqra chuta! Qararay!2 Willst du die Kiste verschrotten?«, sagte Neal ebenso ruhig.
Es kümmerte ihn nicht sonderlich, dass der Wagen heftig schleuderte und auf die Hallenwand zuschoss. Auch er hielt sich lediglich fest.
Als der Wagen endlich zum Stehen kam, fragte er: »Was heißt eigentlich Teufel auf Chibcha?«
»Sisrama«, antwortete César.
Er schnallte sich ab und sprang aus dem Wagen.
»Túraritro!3 «, schimpfte Gino und zeigte César einen Vogel. »Willst du uns die Halle gleich verdellen, César?«
Damit war das wieder vergessen.
»Das ist Plutarco, der Peruaner. Er ist dabei«, sagte César.
»Ihyú«, sagte Sergio knapp.
Er und Gino führten sie über das Gelände.
»Umso mehr wir im Grün versteckt sind, desto schwerer können uns die Satelliten verfolgen«, sagte Gino mit einer weit ausholenden Handbewegung. »Die Landebahn haben wir flugs hergerichtet. Leute! Wir können die Flieger sogar hier auftanken.«
»Es kann losgehen. Zwei Jobs in Kolumbien, einer in Peru.«
Sergio und Gino waren Schurken wie César, wie Plutarco. Sie waren Profi-Haudegen, die sich nicht von Gefühlen leiten ließen, doch hatten für sie Moral, Ehrlichkeit, Christlichkeit immer oberste Priorität. Das galt für das gesamte Team. Jeder, der bei ihnen beschäftigt war, musste eine charakterliche Prüfung bestehen.
Lediglich die Produktionshalle in Quibdó passte nicht so recht in dieses ehrbare Bild. Sie war ziemlich chaotisch: mit Holz und Maschinen so zugestopft, so dass kaum Platz zum Laufen blieb. Sandboden, Ö llachen dazwischen, alles unaufgeräumt und ramponiert. Sie würden es auch nicht aufräumen, denn das Chaos gehörte zur Ablenkungstaktik. Keiner, der zufällig vorbeischaute, würde hinter dem Laden das vermuten, was er wirklich war: ein paramilitärisches Camp.
Neal beobachtete das Team bei ihrem Konditions- und Kampftraining. Es fand neben der Wellblechhalle statt, neben einem Berg Altholz, Paletten und großen Maschinen, die für irgendetwas gut waren. Noch daneben parkte eine kleine Dampfwalze, die sie gut gebrauchen konnten, wenn sie die Landeplan planieren mussten.
Er, Plutarco, César, auch Gino und Sergio, schlossen sich dem Kampftraining an. Jeder musste fit sein. Teamarbeit. Kontrolle. Ladislao war Karatemeister, Leonardo beherrschte Judo und Krav Maga, also israelischen Straßenkampf. Lucio war ihr Techniker, der sämtliche Alarmanlagen ausschaltete, das mussten sie auch können. Lediglich ihr Hacker saß in Bogotá, denn seinen Job konnte nur er.
***
Viel später schritten sie zum Büro: Gino und Sergio, Neal und Plutarco, César und Apolinar.
»Ich habe das Gelände auf eine neue Firma angemeldet«, erzählte Gino. »Llanitas SRL — materiales de construcción4. Dafür gibt es immer genug Aufträge, damit es unauffällig ist. Martio, unser Werkzeugkünstler, wird ein paar Spezialwerkzeuge bauen, damit wir etwas vorzeigen können. Dann legen wir uns hier einen kleinen Vorrat an, damit es glaubhaft wirkt. Anschließend nehme ich 10:1 Scheinaufträge an, die wir mit Scheinfirmen wasserdicht belegen. Das ist das Wichtigste: unauffällig bleiben. Wir werden ordentliche Geschäfte durchziehen, ordentliche Flugzeuge und Autos angemeldet haben. Und wir haben ordentliche Geschäftsbücher für alle jederzeit einsehbar, die uns überraschend besuchen wollen.«
»Hier in und um Quibdó, gibt es weit und breit nur Holz und keine Kartellspione, denn hier gibt es auch keine Drogen«, ergänzte Sergio. »Wenn die Stadtleute unsere Flieger kreisen sehen, schöpfen die schon keinen Verdacht. Wir legen noch ein paar Flyer aus oder inserieren was, damit erst keiner redet.«
Sergio öffnete die Tür schwungvoll. Es war ein typisches Gino-Büro: blitzsauber und aufgeräumt. Schreibtisch, Computer, Flachbildschirm, Telefonanlage, Laptop, Kalender an der Wand, überdimensionierter Drucker und Müllsack hinter ihm. Es waren auch die gleichen Büromöbel wie in Buga: Tischplatten aus Sperrholz mit abschraubbaren Metallfüßen, zwei drehbare Schreibtischstühle. Dazu standen im Raum vier Holz — und zwei Campingstühle, akkurat gestapelt, drei Sessel und ein Sofa. Die Möbel waren allerdings ziemlich abgegriffen und abgeschabt. Das restliche Ambiente zeugte von Arbeit und keiner Zeit: leere Saftflaschen, ein Boden voller Sand. Keiner hätte sich vorgestellt, dass diese sechs Männer so viel Geld verdienten, wenn man sie dort sah.
Gino trat zum Whiteboard.
»Wir lagern die Drogen hier zwischen, aber wir bauen eine Bombe ein, falls uns TDC, ANC5 oder Drogenmiliz besucht. Was noch: Unsere Geräte sind mit nickelbeschichtetem Abschirmstoff geschirmt und wir bauen uns eine hochsensible Alarmanlage ringsum das Gelände. Die muss sitzen. Wir müssen jederzeit wissen, wer kommt, jederzeit sicher sein. Auf einer Lichtung unweit von hier parken wir zusätzlich einen Helikopter für eine schnelle Flucht oder einen effektiven Angriff. Hubschrauber und Flieger schützen wir mit Abschirmstoff gegen Spionage. Soll ich weitermachen?«
»Kosten über Kosten. Das geht alles von unserem Gewinn ab. Warum willst du eine Bombe an die Ware legen? Sie erwischen uns schon nicht und wenn, dann türmen wir«, nörgelte Apolinar.
Er saß in provokativer Haltung im Sessel, seine Blicke halb zum Fenster gerichtet.
»Unsere Sicherheit geht über alles«, sagte Sergio gereizt.
Er maß Apolinar mit einem Seitenblick, der bedeutete: Noch ein Ton und ich hau’ dich in den Boden.
Apolinar konterte dem Blick grantig und nahm sofort eine aggressive Haltung an, bereit den drohenden Streit für sich zu entscheiden.
»Cuitro! Ey urán as cuítcuano6 «, ermahnte Gino seinen Partner.
»Was sagtest du?«, heischte Apolinar.
»Fluss — Boot — Sprengsatz! Boŵa cuáyara7 «, konterte Sergio.
»Und das ist gefahrlos?«, fragte César schnell.
»Egal wie gefährlich es ist. Sie dürfen nichts finden, dann können sie uns auch nichts«, sagte Gino.
Er maß Apolinar und Sergio rasch, um deren Reaktion — oder eine Überreaktion — abzuschätzen. Auch Plutarco schaute misstrauisch von der Seite. Er kannte Apolinar nicht, doch er sorgte sich über einen Streit. Die anderen kannten Apolinar schon. Er war ein guter Kumpel, doch er kam nicht damit klar, dass Gino und Sergio das Sagen hatten.
Neal überging die schwelenden Querelen.
»Welche Aktionen ziehen wir jetzt durch?«, fragte er.
»Zuerst Barranquilla, dann eine Drogenküche in Tunja, anschließend Talara, Peru«, sagte Sergio.
»Erste: lukrativ. Zweite: viel Vergeltung, wenig Geld, wenn ihr mich fragt, dritte womöglich Rohware«, erklärte Sergio.
Er schaute nachdenklich auf den Grund seines Mineralwasser-Glases, als müsse er die Aktionsdaten darin lesen wie in einer magiscshen Kugel.
»Ich hoffe, wir bekommen Spuren, die uns weiterbringen. Es geht dafür schnell: Tánatro! Wátara! Chero!8 Wir sind die Helden von Quibdó.«
Am nächsten Tag ging alles schnell und reibungslos. Die Rollbahn wurde mit viel Sand, Spucke und der Dampfwalze fertiggestellt. Keinen Moment zu früh. Noch im Zwielicht landeten Gino und Sergio mit ihrem ersten Flieger. Es war dann doch keine Embraer, sondern eine uralte Short 330 aus den 70er Jahren. Die Short war ein Militär-Transportflieger für gut dreißig Personen und neuntausend Pfund Beiladung mit einer Reichweite von eintausend Meilen. Sie stammte vom venezolanischen Militär und besaß sogar eine Fallschirmtür. Außerdem war sie in typischen Tarnfarben lackiert, breit, wuchtig, lag tief auf und hatte eine ganze Reihe Fenster sowie zwei ausladende Heckruder. Länge: achtundfünfzig Fuß. Flügelspannweite: vierundsiebzig Fuß. Geschwindigkeit: einhundertneunzig Knoten. Es wirkte schon beeindruckend professionell, als die Maschine auf der Landebahn parkte. Wie wohl ihr erster Einsatz wurde? Doch gleich am nächsten Tag stand eine andere Aktion an: Barranquilla.
***
Der Gottesdienst vor der Aktion war Tradition. Er fand in der Kathedrale von Quibdó statt, einem dunkel sandsteinfarbenen Gebäude, dessen wuchtiges Eingangsportal mit vielen Säulen geziert war. Gino uns Sergios Team hatte sich auf dem Vorplatz getroffen und wartete unter Palmen auf den Beginn der Heiligen Messe. Niemand beachtete sie. Sie waren eben irgendwelche Arbeiter, Fischer, irgendwer halt.
Neal blickte zu den beiden spitzen Türmen und weiter zu den Palmen und dem Fluss. Quibdó gefällt mir nicht. Plutarco mag es sehr, aber er ist ohnehin gerne mitten im Wald. Gino und Sergio? Denen ist es egal. Viele Barrios gibt es hier. Wenn sie am Fluss liegen, wirken sie noch schmutziger und ärmer. Sie erinnern mich an meine drei obdachlosen Jahre in Südamerika. Der Gedanke schmerzt.
»Wo ist Apolinar?«, erkundigte sich Sergio leicht grantig. »Ich sehe ihn nicht. Nie sehe ich ihn, wenn wir uns zur Messe treffen.«
»Ich verstehe Apolinar nicht«, murrte Sergio. »Er klammert sich aus allem aus und will nur an dem teilhaben, was für ihn vorteilhaft ist. Das geht so nicht zwischen uns.«
Sie verloren darüber kein Wort mehr und folgten den Besuchern in die Kathedrale, weil die Messe begann. Fünfundzwanzig Männer und Frauen, Arbeiter und Angestellte einer Transportfirma, die offiziell zwischen Urwald, Feldern und Fluss lebten und ihrem harten Job nachgingen. Sie beteten mit Inbrunst, denn sie hatten alle Angst.
***
Barranquilla. César, Plutarco und Neal kannten die Stadt gut. Besser noch kannte sie das Team Rodrigo, Rosalio, Azucena und Margarito, ihre Spione. Die Drogenmafia versteckte sich in einer kleinen Transportfirma am Rande des Industriegebietes mit Namen Isidro Samuel Santoyo S.A. Es war ein Holzgebäude aus dem vergangenen Jahrhundert. Ein ganzer Berg Plastikfässer im Hof, daneben ein Schotter- und Sandberg und zwei Laster.
»Sie haben keine Alarmanlage und keine Wachposten«, verkündete Rosalio, ihr Techniker.
Ihren Plan hatten sie bereits in Quibdó anhand der Objektfotos ausgearbeitet. Apolinars Team bewachte die Zufahrtsstraßen. Sie nahmen einen Spürhund mit, damit sie die Drogen schnell fanden. Ihr Zeitfenster war eng. In maximal zwei Stunden mussten sie weit fort sein. Ihr Equipment: zwei Transporter, sieben PKW, siebenundzwanzig Paramilitärs. Sie waren ein echt großes Team, denn sie rechneten mit viel Ware und es musste schnell gehen. Im Industriegebiet patrouillierten Wachleute einer Privatfirma; alleine deren Nähe war gefährlich.
Licht aus. Die Wagen näherten sich dem Gebäude. Das Team ging von hinten ins hinein. Masken an, Handschuhe, Haare zusammengebunden, Nachtsichtgeräte. Wachposten gingen draußen in Position. Sechzehn Personen enterten die Halle. Drinnen ging es überraschend schnell. Ihre Vermutung bewahrheitete sich: Die Drogen waren in den schmuddeligen Plastikfässern versteckt. Sie arbeiteten flink, akribisch, hochkonentriert: Fass auf, Drogen heraus, Fass zur Seite, nächstes. Rasch türmte sich ein ganzer Berg Drogensäcke neben ihnen. Licht aus. Ezequiel fuhr den ersten Transporter in die Halle. Die Heckklappe flog auf und die Säcke hinein. Regino stapelte sie von innen. Zweiter Transporter, ebenso. Reichen, stapeln. Es ging schweigend, denn sie wussten, dass sie nicht reden durften. Ein Stimmerkennungsgerät konnte sie enttarnen. Nicht hier, aber überall anders.
Neal, Thera, Rosalio und Salvador schritten inzwischen durch das Gebäude und durchsuchten Räume. Da, das Büro! Sie spannten eine schwarze Plastikfolie vor das Fenster und schalteten das Licht ein. Neal und Thera blätterten durch die Ordner und Dokumente, um wichtige Hinweise zu finden. Sie taten es das erste Mal, denn sie brauchten Adressen, Hinweise. Spannung lag in der Luft; atemlose Eile. Texte überfliegen, wichtige Papiere heraus, unwichtige Ordner zur Seite weg.
Zwischendurch warf Neal immer wieder einen Blick zu Rosalio, zu Thera und Salvador. Sie lauschten angespannt, was im restlichen Gebäude vor sich ging, was draußen geschah. Neals Adrenalinspiegel war hoch. Er hörte ein Geräusch und blickte hoch. Es kam von der Deckenlampe. Sie war aus Bakelit, schwarz, halbrunder Lampenschirm, uralt. Die einfache Glühbirne raschelte, das war es gewesen. Eine typische Lampe, wie sie zu Tausenden in alten Werkhallen hing.
Noch ein Ordner. Dann der Schreibtisch. Schublade, Papierablage, Dokumententaschen. Ein Blick zum Stiftekasten. Ieh! Wie schmutzig sie sind. Thera schraubte inzwischen den Computer auf und holte die Festplatte heraus. César kam in den Raum. Sie verständigten sich durch Handzeichen. Er zeigte ihnen, dass sie fahren wollten. Alles kam in einen Plastiksack. Salvador, der Hüne, nahm ihn wie einen Beutel Watte. Licht aus. Folie ab. »¡Acabé!9 « Sie waren weg.
***
Weiterfahrt nach San Bernardo del Viento. Die Warenübergabe sollte in der gleichen Nacht stattfinden. Es war viel Ware. Sie musste sofort aus Kolumbien heraus. Gino hatte sich wieder mit Herón verabredet. Der Hehler kam mit einem teuren, auffälligen Schnellboot an einem entlegenen Strand an. Schon das Motorengeräusch zeugte davon, wie schnell das Boot sein mochte. Ob es die Polizeiboote abhängte? Womöglich, doch die Hubschrauber nicht. Außerdem ging Herón kein Risiko ein, nie. Diesmal brachte er einen Begleiter mit, den sie noch nicht kannten. Er trug ein buntes Hemd, Schirmmütze und Jeans. Sein Spitzname: EL Genio, das Genie.
»Wenn ich mal nicht komme, dann er«, sagte Herón. »Auf ihn könnt ihr Häuser bauen.«
Die Übergabe war wie immer heikel, den auf beiden Seiten war das Misstrauen so groß wie die Bewaffnung. Es blieben Momente der Angst. Angst vor Verrat. Jeder würde jeden verraten, wenn er selbst aufgeflogen war. Logisch. Auf jeder Seite zwei Dutzend Personen, Maschinenpistolen, Sturmgewehre. Keiner machte einen Hehl daraus, den militanten Schurken herauszukehren, denn das wollte die Gegenseite sehen. Es war ein Zeichen von Stärke. Neal und César blieben im Hintergrund, die Schirmkappen tief gezogen, damit ihre Gesichter im Schatten lagen. Denn ihre Gesichter prangten von den Steckbriefen der Drogenmafia.
Strahler erhellten den Nachthimmel und machten aus ihm einen Taghimmel, der das ganze Gebiet beleuchtete und nichts im Schatten ließ. Dieser Deal war der größte seit Beginn ihrer Zusammenarbeit. Der Gesamtwert der Ware: über vierhundert Millionen Dollar. Herón handelte den Preis herunter, denn er hatte nicht mehr mit. Es war für beide Seiten ein riesiger Deal. Licht aus. Ein Ruf: »¡acabé!10 « Dann trennen sie sich.
***
Das Team brachte das Geld in ihren Safe bei Quibdó. Im fliegenden Wechsel ging es nach Tunja weiter. Es fand eine lang geplante Racheaktion statt. Diesmal stahlen sie kein Drogen, doch sie fackelten ein Kokafeld und die Drogenküche ab. Ziemlich rüde verscheuchten sie die Kokabauern.
Rückkehr nach Quibdó wie mit der Stechuhr. Eine Nacht in der Lagerhalle. Am nächsten Morgen luden sie Bretter und Baumaterialien in die Short 330. Mit vierundzwanzig Personen ging es nach Talara, Peru, eine Stadt an der Nordküste.
Gino und Sergio besaßen Pilotenscheine und tausende Meilen Flugerfahrung. Ihre große Routine merkte man ihnen an. Die Short 330 hob locker von der Landebahn ab und tauchte im dichten Wald ein, dann flog sie ruhig unter den Wolken über Ecuador und landete in Chiclayo. Ein Team hatte bereits vor Ort alles vorbereitet. Wagen organisiert, die Umgebung ausgespäht. Sie luden die Waren offiziell aus, dann brachen sie in der Nacht nach Talara auf. Zugriff. Wagen stehen lassen. Mit der Short 330 im Morgengrauen zurück nach Quibdó.
Tánatro! Wátara! Chero!11
Langsam wurde es Routine. Das war gut so, dann war die Angst irgendwann wie fortgewischt.
***
Endlich zurück in Quibdó. Für die nächsten Wochen war Pause angesagt. Informationen auswerten, neue Informationen einholen, Standardaufträge ausführen, das Gelände sichern, all dies. Sie trafen sich im Büro. Snacks, brasilianischen Cachaça auf dem Tisch. Thera hatte die gestohlene Festplatte aus Barranquilla bereits in die Workstation eingebaut. Gino scrollte siegessicher durch die Daten.
»¡Madre mía!«, durchfuhr es ihn. »Das war eine gute Idee mit den Daten, Neal. Haufenweise Dokumente, dazu diese Firmenliste hier. Dreißig Namen können wir abarbeiten. Einige werden sicherlich Schätze bergen. Die werden sich umorientieren, wenn die das wissen, aber wir finden sie doch. Von dem Gewinnen kaufen wir uns dann unsere Embraer.«
»Traumtänzer«, spöttelte Sergio. »Demnächst erwartet uns eine ganze Privatarmee bis an die Zähne bewaffnet. Fünfhundert Millionen gestohlen. Das spürt auch das Kartell.«
Zweifellos. Der Feind würde aufrüsten, aber sie auch. Noch mehr Spione einsetzen. Sicherheitsmaßnahmen, all dies. Plutarco versprach mit seinem alten Kumpel Amancio zu kontaktieren.
***
Noch in der Nacht saßen César und Neal am Bootssteg und träumten gemeinsam in den Strom. Der Halbmond spiegelte sich vage auf dem Wasser, so dass sie das andere Ufer nur erahnen konnten. Sie tranken argentinischen Wein und plauderten. Ein Windlicht flackerte in einem bauchigen Glas. Es war überall ruhig. Sie hörten das Wasser rauschen und nichts als das. Manchmal strich eine Bö durch die Palmen. Jedes Mal, wenn die Strömung in die Bucht drängte, erfasste sie das kleine Holzboot und nahm es ein Stück mit sich.
»Sollten wir nicht aufhören«, überlegte César. »Wir haben jetzt genug Geld, um uns persönlich zu schützen.«
»Und dann haben wir die Péncamas schon besiegt?«, spöttelte Neal. »Ich würde die Drogen ja vernichten ...«
Er ließ seinen Satz unvollendeet.
César warf ein Steinchen in Wasser. Es gurgelte leise.
»Du hast Recht«, gab er zu. »Ich würde die Drogen auch vernichten. Nur Rache am Kartell. Aber dafür finden wir keinen. Die Jungs wollen viel Geld verdienen, sonst gehen sie das Risiko nicht ein.«
Neal dachte an Red Hook. ONE WAY STREET. SHOOT THE FREAK. LIVE HUMAN TARGET. YEAH! Er wusste, Ricardo hätte ihn in den Boden geschimpft, wenn er von den Aktionen gewusst hätte und Susana noch viel mehr. Aber sie beide gab es nicht mehr, weil sein Feind es so bestimmt hatte. Das war DAS Argument, keine Skrupel zu haben, in der Liege der Bösen ganz oben mitzuspielen. Die mir geblieben sind, werde ich beschützen! Und ich werde mich beschützen!
Sie sprachen nicht viel, sondern genossen das stille Zusammensein, den Fluss und die Geräusche der Natur.
César kratzte vom Steg ein wenig Sand zusammen, krümelte ihn in die leere Weinflasche und tat, als würde er dreimal darauf spucken. Dann stopfte den Plastikkorken feste hinein und warf sie weit in den Fluss. Sie sahen sie im Mondlicht schwimmen.
Neal grinste.
»Was gibt das?«
»Flaschenpost«, antwortete César. »In der Flasche sind jetzt die Seelen der bösen bösen Drogenhändler César und Neal eingesperrt und treiben weit weit weg von uns, damit wir kein schlechtes Gewissen haben.«
»Klingt prima. Ich bin dabei «, sagte Neal.
Ein Schatten spazierte auf sie zu. Es war Plutarco.
»Achalaw!12 Was macht ihr denn hier?«, rief er. »Sitzt hier bei Kerzenlicht wie ein verliebtes Pärchen und ich halte in Quibdó meinen Hals hin.«
»Ist doch noch dran, dein Hals«, meinte César nur. »Noch eine Flasche Wein ist in meinem Wagen. Hole sie uns; du stehst gerade.«
Ende der Leseprobe
1 Quechua: Vorsicht!
2 Quechua: Verdammter Teufel, zur Hölle mit ihm!
3 Chibcha: Irrer
4 Span.: Baustoffe und Holz
5 Span.: Geheimdienst, Sondereinsatztruppe, Anti-Drogen-Einheit
6 Chibcha: Ruhig! Er ist weniger klug als du.
7 Chibcha: intelligenter Trottel
8 Chibcha: Hinein, hinaus, fertig.
9 Span.: schon fertig
10 Span.: Schon fertig.
11 Chibcha: Hinein, hinaus, fertig.
12 Quechua: Welch Überraschung!
Die Übersetzung der Fußnote 3, 6, 7, 8 und 11 sind aus dem Diccionario Bilingüe Uw Cuwa (Tunebo) von Edna Romayne Headland. Das Buch wurde vom El Instituto Lingüístico de Verano und SIL zur Verfügung gestellt. Die Lizenz ist unter „FAIR USE”. Vielen Dank!
Alle im Buch befindlichen Handlungen, Namen und Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, Namen oder Handlungen sind unbeabsichtigt und rein zufällig. Städte und Landschaften beugen sich der Fiktion.
bedeutet »Ein Stern, der seine Position wechselt. Eine Sternschnuppe«Der Begriff entstammt dem Tarahumara, einer Sprache der First Nations aus Chihuahua in Mexiko. 📓 Die Übersetzung ist aus dem Diccionario Tarahumara de Samachique von K. Simon Hiltón. und wurde vom El Instituto Lingüístico de Verano und SIL zur Verfügung gestellt. Die Lizenz ist unter „FAIR USE”. Vielen Dank!
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