Çaçañan

Leseprobe

Ein Schelmenroman über zwei Aussteiger. Der Zauber ist verflogen. Die Globetrotter sehen sich in Kälte und Regen, in Armut und Gewalt straucheln. Das Glück verlässt sie. Sie werden gejagt.

Was bisher geschah

Der Protagonist Neal und sein peruanischer Freund Plutarco sind in Rio de Janeiro mittellos gestrandet und können sich nur mühsam freischwimmen. Mit Hilfsjobs erreichen sich Argentinien und wollen sich zu ihrem Freund Anjelo nach Montevido durchschlagen.


II Pech und Schwefel

Straßensperren wie Luftspiegelungen

Argentinien

Dioxe tao Xihtla, dioxe xagolǝ Coya!1
Das figürliche Dekormotiv stellt eine mythologische Figurenkonstellation dar, das ich nicht kenne. Ich habe die Lafone-Quevedo-Scheibe im Departamento Andalagá für Euch gefunden ...
Na yežagcho!2

Stunden zuvor:
Neal und Plutarco befanden sich am äußersten Rand der Pampa in der Nähe der Grenze zu Uruguay. Die Jobsituation blieb verheerend und die Möglichkeiten zu stehlen waren rar. Sie entschieden sich nach Montevideo zurückzukehren, um dort auf die Rückkehr Anjelos zu warten. Montevideo klang wie Musik in ihren Ohren, schließlich stromerten sie gerne durch pulsierende Großstädte; darin waren sie sich gleich.

»Ich möchte meinen Großeltern noch etwas aus Argentinien schicken«, bemerkte Neal. »Einen kleinen Kunstgegenstand. Irgendetwas Ausgefallenes.«

Nach ewigem Suchen fanden sie etwas. Es war eine fast runde Scheibe aus Ton mit diversen Verzierungen. Bei genaueren Betrachten erkannten sie, dass es eine abstrakte Figur war. Der Verkäufer erklärte es ihnen.

»Das ist die Nachbildung der Lafone-Quevedo-Scheibe. Sie stammt aus dem Departamento Andalagá, Catarmarca. Sie sehen ein göttliches Wesen aus der Aguada-Kultur um sechshundert bis eintausend nach Christi.«

Jetzt erkannten sie es auch. Die Spitze am oberen Ende war in Wirklichkeit ein ovaler Kopf mit einer Strahlenkrone. Auf den Schultern der Figur hockten zwei Raubtiere mit runden Ohren und langen Ringelschwänzen. Die Raubtiere waren abstrakte Jaguare oder Pumas? Vielleicht!

Plutarco nahm die Scheibe fasziniert und drehte sie in seinen Händen.

»Schau mal«, sagte er. »Hier oben siehst du die Sonnenkrone. Ich habe geglaubt, die acht Kreislöcher wären nur Verzierungen, aber zumindest die oberen beiden scheinen Augen zu sein. Oder er hat acht Augen. In der Mitte Nase, Mund. Jetzt erkenne ich es.«

»Und auf seinen Schultern stehen diese abstrakten Raubtiere. Die Ohren sind so groß wie die Gesichter. Erkennst du nur an den Ringelschwänzen. Sie sind der Orientierungspunkt.«

Sie lachten leise.

»Meine Großeltern werden sich darüber freuen«, bestätigte Neal.

Neal liebte es, Geschenke zu verschicken. Das Schöne daran war, dabei an seine Großeltern zu denken. Wie gerne hätte er sie wiedergesehen! Liebevoll verpackte er den Kunstgegenstand, und sah zu, wie sein Paket auf einem kleinen Stapel anderer landete. Allinlla ñan!3

Friedlicher Stimmung fuhren sie beide weiter. Zwei Weltenbummler, die ihre Freiheit suchten, die in den Tag hineinlebten und nach Jobs Ausschau hielten.

***

Nahe der Grenze zu Uruguay

Und dann geschah es.

Nur zufällig passierten sie einen kleinen Ort unweit der Grenze zu Uruguay. Sie hielten für einen Zwischenstopp vor einem Café. Es war klein: drei Tische unter kleinen Sonnenschirmen; eine Theke mit Getränken dahinter ein Shop mit wenigen Lebensmitteln wie es früher üblich gewesen war. Ein kurzer Aufenthalt, um an der Theke Wasser zu kaufen. Ein verhängnisvoller Aufenthalt. Im Shop war gerade eine rüde Rangelei im Gange. Der bewaffnete Mob eines Großgrundbesitzers — zu erkennen an der typisch paramilitärischen Aufmachung — schlugen auf einen indigenen Mann ein. Sie wirkten um Äußersten entschlossen, als hätten sie keine Skrupel zu morden. Der indigene Mann blutete bereits und war schwer verletzt. Weit und breit gab es niemanden, der ihm half. Nur unbeteiligte Zaungäste.

Neal und Plutarco zögerten nicht.

Plutarco rief: »Iglesia me llamo!4« und bekreuzigte sich. Es war sein Zeichen dafür, dass auch er nun zum äußersten entschlossen war, bereit für einen Straßenkrieg auf Leben und Tod.

Neal nickte für sich. Das Recht der Straße. Das Gesetz der Straße.

Er und Neal gingen sofort dazwischen, um dem indigenen Mann zu helfen. Mit einem beherzten Griff hatten sie zwei Sonnenschirme in der Hand. Die Schirme warfen sie achtlos zur Seite, die Stangen benutzten sie als Schlagholz. Es wurde ein harter Kampf, denn ihre Gegner waren brutale Männer, die in ihnen prompt Todfeinde sahen. Auch sie hatten Schlagstöcke und keine Skrupel zuzuschlagen. Sie waren hemmungslos. Ja, sie wollten ihre Macht spüren, sich als Sieger fühlen, sie wollten sie auf dem Boden sehen, verletzt, vernichtet. Ihnen war Leben egal, ihr Leben egal. Weil sie Fanatiker waren? Weil sie bezahlt wurden? Eigentlich war es auch egal warum.

Der Kampf entbrannte in voller Härte. Doch Neal und Plutarco waren routinierte Straßenkämpfer, die nicht das erste Mal um ihr Leben kämpften. Sie kannten alle Tricks, sie kannten alle Griffe, Tritte, Hiebe. Plutarco verletzte einen Angreifer mit der Schirmstange schwer, Neal einen zweiten noch schwerer. Archaische Schreie. Rufe. Aggressionen. Stöhnen. Gewalt, die den Tod nicht scheute. Das Handgemenge gewannen Neal und Plutarco, denn ihre Stangen waren länger und sie schneller.

Mit der Polizei kam der Krankenwagen. Der indigene Mann sowie die sechs Angreifer wurden notärztlich versorgt und abtransportiert.

»Gehen sie zur DHA, zur Derechos Humanos de Argentina«, ermahnte Plutarco den indigenen Mann.

Doch der Mann war kaum aufnahmefähig und nickte nur müde.

»Danke!«, antwortete er. »Palmann wird ohnehin gewinnen, weil er das Land will. Uns kann keiner helfen.«

Neal nickte zu Plutarco. Das Recht der Straße. Das Gesetz der Straße.

***

Das Verhör

Neal und Plutarco waren bis auf den einen oder anderen blauen Fleck unverletzt. Sie wurden noch vor Ort verhört, ohne Rücksicht darauf, ob sie vielleicht unter Schock standen. Die Polizisten kannten die meisten Zeugen persönlich gut und fragten sie ebenfalls.

»Sage mir, was du gesehen hast.«

»Ich habe nichts gesehen.«

»Ich habe auch nichts gesehen.«

»Ich bin erst gerade hier.«

Ein Zeuge zeigte auf Neal und Plutarco.

»SIE sind fremd. Ich glaube, SIE haben die sechs Männer von Don Ronquello Palmann angegriffen«, sagte ein Zeuge.

»Warum?«, fragte die Polizei.

Schulterzucken.

»Warum haben sie die sechs Angestellten von Don Ronquello Palmann angegriffen?«, wandte sich der Polizist an Neal und Plutarco.

»Wir mussten dem indigenen Mann helfen. Der Mob hat ihn attackiert«, antwortete Plutarco.

»Warum sollten die Angestellten von Don Ronquello Palmann das tun?«

»Die beiden Fremden da haben angefangen. Ich habe es genau gesehen. SIE sind auf die Männer von Don Ronquello Palmann losgegangen«, bestätigte ein anderer Zeuge.

»Vielleicht ist Anselmo Corro nur in die Auseinandersetzung zwischen IHNEN beiden und den Angestellten von Don Ronquello Palmann herein geraten«, sagte ein dritter Zeuge.

Ein Polizist musterte Neal und Plutarco mit eisigen Blicken, die schuldig schrien.

Zweifelsfrei: Die Zeugenaussagen sprachen gegen Neal und Plutarco; vor allem, weil der Estanciero Don Ronquello Palmann in seinem Landstrich der König zu sein schien. Palmann stand über dem Gesetz. Palman beugte das Gesetz. Palman bezahlte nicht die radikalen Schläger, für die ein Mord nicht mehr als ein Befehl war. Palman bezahlte auch die Polizei und die Richter. Der Estanciero bezahlte das Schweigen. Es gab keine Proteststimmen in seinem Königreich. Wer protestierte wurde bedroht, getötet. Und es gab niemanden, der den Tod rächen konnte.

Neal und Plutarco sahen den Estanciero nicht, doch er war da. Zumindest in den Köpfen derer, die vor ihnen standen. Palmans bedeutete deren Erfolg, und auf Palmans Seite zu stehen bedeutete deren Sicherheit. Und diese Einstellung stand im Raum. Es war ja kein Raum, sondern nur eine Straße vor einer Cafébude in Palmans Königreich. Das Recht der Straße. Das Gesetz der Straße. Auch für die da oben. Sie nehmen sich das Recht. Und von ihrem vielen Geld kaufen sie sich ihre moralische Absolution.

»Taripay P’unchaw!«5, fluchte Plutarco zornig, als er merkte, worauf das ganze hinauslief.

Neal warf einen vorsichtigen Blick zu ihm, weil er Sorge hatte, Plutarco würde auf die Polizisten und auf die Zeugen losgehen.

»Qasi!«6, ermahnte er ihn leise. »Ñuca!7

Neal stand der Bedrohung kalt gegenüber, jetzt wo die Gefahr für sie spürbar eskalierte. Jetzt wurde er wieder zu dem, der die Freaks rechtlich vor der Polizei beschützt, wenn diese ihnen hatte etwas anhängen wollen. Neal Xegua Quinatzin Chichitzeca, Jurist in spe. Wenn nicht das alles geschehen wäre. Er kannte alle rechtlichen Argumente und Ausreden auswendig. Er hatte keine Angst, wenn es wirklich gefährlich wurde. Obwohl er jetzt Angst haben musste, denn diese Menschen hier wollten ihnen etwas anhängen, um sie richtig fertig zu machen. Umso wacher war er, und er wurde zu dem Teamführer, der er Jahre gewesen war.

Neal beschrieb ruhig den Ablauf der Szene: Der Überfall; ihr beherztes Eingreifen, um das Leben des indigenen Bauern zu retten. Er sprach erneut von versuchtem Totschlag und Notwehr, doch er hörte und sah, dass seine Worte abprallten. Zeugen und Polizisten wollten vertuschen, was sie wussten: den Überfall auf den indigenen Bauern Anselmo Corro. denn die Anwesenden wollten ignorieren, was sie doch wussten: Den geplanten Überfall auf den indigenen Mann Anselmo Corro. Das stand in den Gesichtern der Polizei geschrieben und auch in denen der Zeugen. Für sie waren Neal und Plutarco nur weitere indigene Unruhestifter in der gerechten Welt des Estancieros.

»Die sechs Männer haben Anselmo Corro angegriffen und wir haben ihm geholfen«, wiederholte Neal beharrlich.

»Wir denken, dass die sechs Angestellten von Don Ronquello Palmann den Bauern Anselmo Corro nur zurückdrängten. Corro ist ein gewaltbereiter indigener Mann, der immer Ärger macht«, sagte der Polizist eisig.

Plutarco blickte unbewegt. Sein Hass auf die ignoranten Polizisten und auf die tumben Zeugen wuchs. Schaut auf unsere schönen Häuser: Wir sind zivilisiert, denn wir haben Erfolg. Schaut auf eure indigenen Hütten, auf eure armselige Kleidung. IHR sind unmündig. Wir weisen euch den Weg, aber IHR protestiert dagegen. Das ist Anarchie!

Plutarcos Körperhaltung war angespannt aggressiv. Er wirkte unstet und nicht berechenbar.

»Qasi!«´8, ermahnte ihn Neal wieder leise.

»Wie heißen sie. Wo kommen sie her? Was wollen sie hier? Kennen sie Anselmo Corro?«, beharrte der Polizist.

Er schaute vernichtend zu Neal, doch dieser hielt dem kalten Blick stand und konterte eisig: »Meine persönlichen Angaben sind nicht für die Ö ffentlichkeit bestimmt.«

Er wies grantig auf die Zeugen, die gelangweilt und ablehnend um sie standen.

Der Polizist zuckte mit den Schultern und warf vielsagende Blicke zu seinem Kollegen.

»Gut. Das ist ihr Recht«, bestätigte er.

Plutarco schaute bewundernd zu Neal. Er hat was, wenn er so ist. Er hat DAS Auftreten!

Es hatte sich ein kleiner Menschenauflauf gebildet. Der Polizeiwagen stand quer auf der nicht allzu breiten nicht asphaltierten Straße. Sein Alarmlicht blinkte. Ringsum ländliche Gebäude. Menschen hinter Gardinen belauerten die Szenerie. Der Store-Besitzer war vor seine Tür getreten. Sein grün-rot-weißes Firmenschild ›CAFÉ CHICO‹ wirkte abgegriffen und war mindestens dreißig Jahre alt. Vor seinem Laden das Bild der Verwüstung: Die kaputten Sonnenschirmständer, umgefallene Stühle, verschobene Tische. Die Schirmstangen, die Neal und Plutarco als Waffen benutzt hatten, lagen etwas entfernt. Blut daran. Benutzte Kaffeetassen von irgendwem auf dem äußersten Tisch. Sie wackelten, als ein großer Traktor vorbei fuhr. Er bremste, um genauer zu schauen, was los war. Ein Zeuge machte ihm den Handzeig weiterzufahren.

Neal musterte die Zeugen, ohne sie wirklich zu sehen. Fünf Männer. Einer trug ein rotes T-Shirt und hatte eine Knollennase. Der Mann mit dem Karohemd hatte rote Backen vor Aufregung. Die anderen waren irgendwie gesichtslos. Schon die Abwesenheit von jeglichen Gefühlen wirkte abstoßend und gab der Szenerie einen surrealen Hauch. Leere Blicke kamen aus dem Nichts und schauten ins Nichts. Trotzdem waren sie Zeugen, durften eine Meinung haben. Wie gefährlich! Schließlich kam noch eine Frau aus dem hintersten Winkel des Stores. Kurze Haare, zornige Blicke, ein hysterisches Zucken um den Mund.

»Anselmo Corro macht immer Ärger, denn er will sein Land nicht an Don Ronquello Palmann verkaufen, obwohl der Estanciero ihm viel Geld bietet. Die Corros sind gewalttätig! Sie haben bestimmt diese beiden fremden Männer gerufen, um Terror zu machen. Diese beiden Männer haben den Streit angefangen. SIE haben die Schirmstangen genommen und wild um sich geschlagen. Ich habe es genau gesehen«, erzählte sie herrisch.

Das Gesetz des Stärkeren galt hier, wo die bunten Illustrierten von der »Freiheit der Pampa« sprachen und friedliche Fotos zeigten; wo von Fortschritt und westlicher Kultur gesprochen wurde, von Menschenrechten, Gesetzen und Gerechtigkeit. Davon, die indigene Bevölkerung zu assimilieren, weil es für sie besser wäre. Der Kniefall der Volksstimme vor der Wirtschaftsmacht wie vor einem despotischen König, gelockt durch das Versprechen Wohlstand, geschmeichelt von der Droge Konsum.

Plutarco dachte an rechtsradikale Hetzjagden auf Indigene, die in den Medien nahezu unbeachtet blieben und wenn, dann nur schüchtern popularisiert wurden. Vertreibung, Enteignung, Unterdrückung und Elend ... Wegschauens für den Fortschritt, bitte. Niemand sieht das Unrecht, das ins Vergessen fällt. Hilflosigkeit, Gewalt und Tod: Nur ein paar Minuten der Ignoranz. Schon wusste keiner etwas. Nein! Niemand zweifelte hier am Recht des Stärkeren und schützte nur sich selbst. Plutarco war erzürnt.

»Plata o plomo?«9, grollte er.

»Qasi! Ñuca!«10, ermahnte Neal seinen Freund

Er sah, dass sich Plutarco in seinen Zorn hineindachte und das konnte gefährlich werden.

Plutarco nickte unmerklich und versuchte sich abzulenken. Von der Ungerechtigkeit hin zur dräuenden Gefahr für sie in dem Moment. Neal atmete auf, als er sah, dass seine Worte ankamen und fand wieder Zeit für die bedrohliche Situation.

Er schaute unbewegt in die kalten Mienen der Menschen ringsum. Sie alle, die sechs Zeugen und die beiden Polizisten, der Store-Besitzer, die Frau und die Menschen hinter den Gardinen, sie waren nur ihrem König, dem Estanciero Don Ronquello Palmann, treu. Palman gehörte das Land. Palman verteilte Almosen, beschäftigte die Leute, dafür bejubelten sie ihn, weil sie ihn gerne bejubelten. Der gierige König ließ morden. Er war Mafia. Don Ronquello Palmann, Herr über Tod und Leben. Soviel war klar. Todesgefahr für jeden, der sich dem König in den Weg stellte. Die Zeugen wurden immer mutiger im Angesicht der Polizisten und Waffen.

»Anselmo Corro und seine Sippe behindern den Fortschritt unserer friedlichen Gemeinde. Die Corros fangen den Streit an. Sie sind gefährlich«, bestätigte einer der Zeugen.

Er trug ein hässliches blau-braunes Hemd und hatte eine spitze Nase und Habichts-Augen, die sie voller Missachtung musterten.

»Die sechs Angestellten von Don Ronquello Palmann haben nur mit Corro geredet. Dann kamen diese beiden Fremden und fingen an zu wüten«, ergänzte der mit der Knollen-Nase.

»Es geht garantiert um den Mord. Die fremden Männer sind schuldig. SIE lungerten hier schon die ganze Woche herum«, zischte die hysterische Frau und schaute giftig durch die Runde.

»Um welchen Mord?«, fragte Neal.

»In der letzten Woche wurde ein 16-jähriger indigener Junge zu Tode getreten und in den Straßengraben geworfen. Unbekannte Täter. Es kam in den Nachrichten«, bestätigte der Polizist.

Er schaute lauernd auf die beiden Fremden.

»Wir waren in der letzten Woche NACHWEISLICH in Paraguay. Tut mir leid«, antwortete Neal kalt.

Er stellte bewusst diese Falschaussage in den Raum, um die Bedrohung vorerst abzuschütteln.

Ablehnende Blicke trafen ihn. Zorn, dass sie diese Gräueltat nicht auf diese indigenen Fremden, abwälzen konnten, um die Tat los zu sein, die ihren Landstrich befleckte.

Plutarco stockte der Atem vor Wut. Ist ein Stück Land genug Legitimation für den Mord an einem kleinen indigenen Jungen oder an armen Bauern? Warum gebietet diesem schurkischen Estanciero niemand Einhalt? Diese Wirtschaftsgiganten bomben uns ins tiefste Mittelalter ... sie sind der Tod aller ... doch die da oben auf ihren Richterpulten der globalen Macht, sie kaschieren ihre Doppelmoral hinter hohlen Statements ... lächeln zu ihrer Untätigkeit. Sie sind die gleichen Haie, Gaukler, Scharlatane. Scheinmoral! Ein Prozess gegen Palmann findet erst dann statt, wenn der Kerl so alt ist, dass sie ihn begnadigen müssen - wie Montrios, den Mörder aus Guatemala! Nein! Für SIE da oben bedeutet der Wunsch nach Recht und Freiheit ohnehin nur ANARCHIE!

Der echte Plutarco erwachte mit einem gigantischen Ruck. Er, der überzeugte Kämpfer gegen den Camino Oro und für die Rechte des Volkes. Er, der seinen hilflosen Zorn gegen die Ungerechtigkeit über alles stellte. Er schimpfte still. Genozids am Recht! Genozid ist einfach und bequem. Der Genozid am Recht versteckt sich hinter klugen Paragraphen und Stillschweigen. Was wollt ihr. Popcorn? Ihr bekommt Popcorn. Ihr wollt Gerechtigkeit. Nehmt das Popcorn oder sterbt im Straßengraben.

Plutarco stellte sich gerade hin und spannte seine Muskeln an. In seinen Blicken spiegelte sich das Wort Rache. Aufgeheizt durch die physische Auseinandersetzung, gereizt durch die plumpe Provokation seiner Feinde, holte er aus. Zuerst gedanklich und dann ...

»Qasi!«11, ermahnte Neal strikt.

Er warf seinem einen kurzen, strengen Blick zu. Meine Güte! Muss er jetzt abticken?

Neals Blick, seine bezwingende Stimme und seine dominante Aura, verhinderte Plutarcos Ausfall.

Unmerklich nickte Plutarco und beruhigte sich wieder. Und mit jedem Fingerzeig zeigte sich Neal als mächtiger Anführer, der sich nicht unterkriegen ließ und den Ton angab.

Der Konflikt in Plutarco ebbte so plötzlich ab, wie er entstanden war, und es war gut, dass die Gegenseite Plutarco nicht gut genug kannte, um das zu sehen, was Neal verhindert hatte.

»Mit den Konflikten in diesem Ort haben wir nichts zu tun, denn wir sind nur auf der Durchreise«, sagte Neal zu den Polizisten.

Doch es war zu spät für Vernunft oder vernünftige Argumente. Neal und Plutarco spürten das Misstrauen ringsum wabern. Die Situation spitzte sich zu. Gesichter ringsum wurden zur Bedrohung. Es fühlte sich an wie Lynchmord. Die Freunde sollten auf das Polizeirevier kommen, um eine schriftliche Zeugenaussage zu machen. Es klang logisch. Nein. Sie spürten Probleme auf sich zukommen. Dennoch folgten sie den Polizisten, weil sie keinen Ärger wollten.

»Maquicunapi khaskiy maquicunandin puchukay!«12, grollte Plutarco leise.

Und jeder Schritt für sie war wie einer in Richtung Guillotine.

Wem gehörte das Land? Don Ronquello. Seine Ahnen hatten es von der Krone erhalten. Blieb nicht Diebstahl ein Diebstahl? War es ihr Land, weil sie die Eroberer waren?! Weil sie sich das Recht für den Landraub genommen hatten? Ja? Nein? Ja?
Don Ronquellos Land war so groß wie ein kleiner Staat. Mit einem Dorf, einem Supermarkt, einem Café und einer Polizeistation. Alles gehörte Don Ronquello. Dann hatte er geheiratet. Eine reiche deutsche Auswanderin mit Namen Palmann. Es kam noch mehr Land dazu, denn sie kauften und vertrieben und kauften und vertrieben, weil es so einfach war. Jetzt wohnten noch immer lästige Indigene zwischen den großen Ländereien, weil sie schon immer dort gewohnt hatten. Unruhestifter.
Wer entschied über Gerechtigkeit? Vielleicht doch der, der lauter rufen konnte? Don Ronquello Palmann konnte lauter rufen. Die Stimme des Herrn. Neal und Plutarco wussten das, denn jedes zweite Wort hieß Don Ronquello Palmann. Dazu ein ehrfürchtiges Kopfnicken.

***

Polizeistation an der Grenze zu Uruguay

Es war eine kleine Polizeistation hier in diesem Dorf irgendwo in Argentinien. Ein altes Schild POLICÍA an einer weiß-grauen schlecht verputzten Hauswand. Eine graue Eingangstür führte in das kleine Gebäude. Büro, Arrestzelle, WC. Das Büro bestand aus einem Schreibtisch, einem Aktenschrank, einem Telefon und Stühlen. Das Bild des Präsidenten hing in einem Blitzrahmen an der Wand. Familienbilder standen auf dem Schreibtisch. Dahinter saßen die beiden Polizisten. Davor saßen Neal und Plutarco. Nicht wie stolze Männer, die einen Totschlag verhindert, die mutig und selbstlos sechs Männer angegriffen hatten, sondern wie Verbrecher, die einer Straftat überführt worden waren. Und so fühlten sie sich. Es war kein gutes Gefühl. Und ein noch schlechteres, dem Telefonat zu lauschen, das ein Polizist führte. Die Bedrohung kam nahe, denn sie wurden von Opfern zu Tätern gemacht, von Helfern zu Aggressoren. Die Polizei war keine. Sie entschied nicht, sondern sie telefonierte mit Don Ronquello Palmann.

»Ja, Don Ronquello Palmann. Die beiden Männer sind fremd hier ... Ich zweifle ihre Aussagen auch an ... Ihre Angestellten würden nie gewalttätig angreifen ...«

L-Ü-G-E!

»Es stimmt, Don Ronquello Palmann. Ich habe es auch schon überlegt ... Der indigene Junge, der in der vergangenen Woche totgeschlagen wurde ... Ja! Vielleicht waren sie es ...«

L-Ü-G-E!

Neal fixierte einen glänzenden nachtblauen Kugelschreiber mit einem violetten Schimmer auf dem Schreibtisch. Er lag in einer kleinen gelben Plastikschale. Er trug eine silberne Aufschrift. Neal versuchte sie zu lesen, doch er scheiterte. Seine Gedanken kreisten. Gefährliche Lügen! Tödliche Lügen! Sie schreien uns ins Gesicht! Sie greifen nach uns! Hilfe!

»Ja, Don Ronquello Palmann. Es ist gut möglich, dass die beiden Männer Alfredo hinter der Theke überfielen, um ihn auszurauben ... dass ihre Angestellten sie stellten ... Es scheint mir plausibel ... Alfredo kann das bestimmt bestätigen ...«

L-Ü-G-E!

»Sicherlich Don Ronquello Palmann. Wir werden die beiden fremden Männer hier behalten, anzeigen ... vorsichtshalber ... Nein. Wir wissen nicht, wie sie heißen ... Ja. Sie hätten ihre Ausweise im Auto ... Nein. Wir wissen nicht, wo das Auto ist ...«

Neal und Plutarco schauten sich vielsagend an und ihre Blicke bestätigen ihre Angst: Vor einer Anzeige, vor Willkür, vor einem Polizeigewahrsam, dass sie vielleicht nicht überlebten. Sie ahnten, dass die sechs Männer sie nachts ermorden würden, damit es keine Zeugen gab. Fluchtversuch. Mord. Ende. Ihre Angst eskalierte. Sie lauschten den Stimmen der beiden Polizisten, doch diese wurden zu Tonbandstimmen einer plötzlich surrealen Welt. Wachsfiguren, die sich kaum in Zeitlupe bewegten. Dann fror die Szenerie ein und wurde zu Stein. Halluzinationen der Angst. Die Gegenwart losgelöst von der Realität. Das Vergessen. Und das plötzliche Erwachen.

Neal nickte zu Plutarco, weil er wusste, dass sie keine Chance hatten und dass es nicht mehr weiterging.

»Manamá!”13, sagte er.

Das war das Stichwort. Dann ging alles sehr schnell. Neal hangelte sich über den Tisch, packte den Haarschopf des Polizisten, schlug dessen Kopf auf den Tisch, gleich neben die gelbe Plastikschale mit dem glänzenden nachtblauen Kugelschreiber. ›Estancia Tierra Nueva‹ stand auf ihm. Silberner Schriftzug, Bodoni 14.
Plutarco hatte den anderen Polizisten gepackt, schob ihn quer durch den Raum, schubste ihn gegen die Wand. Tumultische Szenen. Es gab keine Gegenwehr. Keine fünf Sekunden später waren die Polizisten überwältigt. Sie sperrten sie ein. Tuch über den Mund, Hände zusammenbinden. Sie zerstörten das Telefon, die Handys. Rasche ängstlich-zornige Schläge, die gegen ihren Untergang ankämpfen. Raus. Draußen erwartete sie greller Sonnenschein. Freiheit. Atemlosigkeit. Und Flucht.

Sie holten den Falcon. Jemand beobachtete sie dabei. Neal, der Routinier in Verfolgungsfahrten, fuhr in halsbrecherischem Tempo rückwärts und drehte im schnellen Schwung. Ihr Beobachter sah nur den grünen Station, nicht die rote Beifahrertür, nicht die weiß-graue Heckklappe. Ihr Glück. Neal preschte derart schnell, dass Plutarco bewundernd durch die Zähne zischte.

»So kenne ich dich gar nicht«, sagte er begeistert. "Wie viele Polizeiwagen hast du abgehängt?«

»Viele«, antworstete Neal.

Doch die Aktion rettete sie nicht wirklich.

Sie erschienen auf der Fahndungsliste der argentinischen Polizei. Ein grüner Station. Von ihnen gab es eine dezidierte Personenbeschreibung und ein Phantombild. Widerstand gegen die Staatsgewalt. Schwere Körperverletzung im wiederholten Fall, Raubüberfall, Verdacht auf Totschlag. Niemand sprach von Hilfeleistung und Notwehr. Niemand sprach von panischer Todesangst. Neal und Plutarco wussten nichts über die Anklagepunkte. Sie wussten nur, sie würden vor Gericht nicht durchkommen. Kein Zeuge würde für sie aussagen, wenn Don Ronquello Palmann das nicht wollte, kein Richter für sie plädieren. Es würde alles gegen sie sprechen. Vor allem ihr Vorstrafenregister, das keinen Freiraum bot für eine pazifistische Interpretation. Sie hatten keine Chance. Sie mussten flüchten. Das Recht der Straße. Das Gesetz der Straße.

***

Auf der Flucht

Ihre Angst beflügelte ihre Mobilität und ihr Adrenalinspiegel konnte höher nicht sein. Sie befanden sich am äußersten Rand der Pampa. Kurz überlegten sie, ob es einfacher war in Richtung Uruguay zu fahren oder in Richtung Paraguay. Es galt schnell eine Grenze zu übertreten — und am liebsten in Schallgeschwindigkeit.

»Uruguay«, bestimmte Plutarco intuitiv.

Neal plädierte auch für Uruguay.

Als sie jedoch versuchten, die Grenze nach Uruguay zu überqueren, scheiterten sie beinahe. So entdeckte die argentinische Polizei, dass sie einen grünen Station mit einem gestohlenen argentinisches Kennzeichen fuhren.

Neal und Plutarco ahnten, keinen zweiten Versuch zu haben. Sie fuhren in Richtung Paraguay weiter. Unterwegs warfen sie die argentinischen Kennzeichen weg und montierten die alten US-amerikanischen Kennzeichen an. Wie lange hatte Neal sie nicht benutzt? Plutarco schnitt seinem Freund die dunkelbraunen Locken raspelkurz ab; fast zu einer Glatze.

»Jetzt siehst du wie der Gangster aus, der du bist«, amüsierte er sich.

Und doch schaute er befremdet, denn er kannte das harte Gesicht seines Freundes so nicht. Dessen Züge hatten nichts Freakiges an sich und unter Stress schon gar nicht. Sie zeigten einen harten Kerl, der ein hartes Leben hinter sich hatte.

»Hast ein hartes Leben hinter dir. Fällt einem sonst gar nicht so auf«, bestätigte Plutarco leise.

Er selbst versteckte sich unter der Plane im Wagen. So fuhren sie weiter. Bangten, hofften. Ein einziger Passagier war weniger auffällig. Der Station mit einem amerikanischen Kennzeichen. Der Hund dabei. Vielleicht fielen die Fahnder darauf herein? Es war nur eine kleine Hoffnung. So näherten sie sich der Grenze nach Paraguay.

Prompt stoppte sie ein Privatwagen an einer Kreuzung außerhalb einer kleinen Ortschaft.

»Sie können doch nicht mit Abblendlicht auf der Landstraße fahren«, schimpfte der Fahrer.

Neal lächelte höflich. Er ahnte, einen verdeckten Fahnder vor sich zu haben und stellte sich ganz, ganz dumm.

»¿QUÉ? Sorry! What did you say? ¿No iluminado? ¿Con los faros apagados? Oh, the light! Sorry! I forgot to drive without dipped headlights. It’s so exciting here and the wonderful moonlight.«

Ein Blick in des Fremden Gesicht, in dessen Augen und auf dessen Garderobe. Ja, ein verdeckter Fahnder. Neal war erschreckt. Er spürte sein Zittern, seine Aufregung. Was tun? Er versuchte seine Contenance zu wahren.

»Haben sie sich verfahren?«, fragte der Fremde.

Neal sah des Mannes suchende Blicke durch sein Wageninneres.

»¿Mal camino?«, fragte er unschuldig.

Neal tat, als würde er kaum etwas verstehen und lächelte noch einmal gewinnend.

»Wrong way? No. I want to cross the Paraná in direction to Paraguay.«

Der Fremde blieb misstrauisch.

«Nice country, but a little bit dangerous, isn’t it? Friendly people, but I’m glad that my dog goes with me. Hi Daisy. Say hello!«

Neal streichelte Pimana. Daisy war der erste super-amerikanische Name, der ihm einfiel. Er trug seine schönste Jeans und sein ordentlichstes T-Shirt. Breitestes Lächeln. Er sprach Englisch, weil die Polizei nach zwei Männer fahndete, die gebrochenes Spanisch mit starkem indigenen Dialekt sprachen. Einer sollte wie ein peruanischer Indigener anmuten. Der mit den indigenen Zügen lag unsichtbar versteckt unter der Plane im Auto.

Neal trug seine obligatorisch amerikanische Schirmmütze tief ins Gesicht. Er lächelte amerikanisch breit. Das sollten den versteckten Fahnder ablenken. Damit der nicht ahnt, dass er der Gesuchte sein könnte, zog er die Schirmkappe von der Stirn und strich sich über die raspelkurzen Haare. Lächeln, lächeln, lächern. Neal verstand kein Wort Spanisch.

»... huidizo...«14, versuchte der Fremde zu erklären.

Neal lächelt ihn mit seinem freundlichen Lächeln an und fragt unschuldig: »¿Cómo dice usted? — WHAT?«

Fast trug er einen Heiligenschein.

«Sorry. You better have to turn around. We are searching for two criminal fugitives from Paraguay. Dangerous robbers. Attempted police murder. The frontier is locked«, sagt der Fremde genervt.

Alleine durch seine Worte bewies er, dass er ein Fahnder war.

»Locked frontier? Which direction? And NOW?«, fragte Neal.

Er ließ es sich auf der Karte erklären; er stieg extra aus. Pimana sprang mit ihm aus dem Wagen.

»Daisy, Daisy! My dear. Don’t run away. Come here.«

Ein Blick des Zivilfahnders zum Hund. Neal folgt diesem. Yeah! Sie wissen nichts von dem Hund. Sie denken sich, so schnell kann ich keinen Hund gefunden haben, der mich so gut kennt. Welch Glück, dass wir Pimana einmal im Auto ließen, als wir etwas einkaufen wollten! Doppelt yeah!

Der Fahnder gab seinen Verdacht auf. Vielleicht wollte er auch keinen amerikanischen Staatsbürger verdächtigen.

Neal und Plutarco ahnten, dass die gesamte Ostgrenze hermetisch abgeriegelt war. Dort gab es kein Durchkommen. Ihre Panik eskalierte. Eine Verhaftung würde nicht glimpflich ablaufen. Womöglich würden die Polizisten sofort von der Schusswaffe Gebrauch machen. Logisch. Raubüberfall. Körperverletzung. Totschlag. Polizistenmord! Bei solchen Gangstern zögerte niemand. SHOOT! DAS für eine bloße Hilfe ... Wenn sie uns fangen, gibt es keine Ausrede, keine Gnade, kein NICHTS.

»Wie kommen sie auf den versuchten Polizistenmord?«, fragte Neal tonlos.

»Damit sie uns sofort erschießen dürfen?«, antwortete Plutarco.

Es hieß nun: Chile. Einmal quer durchs ganze Land. Sie wussten, sie brauchten lange bis zur chilenischen Grenze. Der Nervenkrieg würde Tage dauern.

***

Unterwegs nach Chile

Rasch überquerten sie den Paraná und versuchten möglichst viel Raum zwischen sich und Palman zu bringen, um die Spuren zu verwischen. Aber konnten sie sie verwischen? Mit ihren einfachen Hilfsmitteln? Sie waren unsicher.
Vorsichtshalber verbummelten sie die beiden nächsten Tage in einem versteckten Waldstück. Danach fuhren sie nur nachts weiter, um weiterhin große Strecken nur mit Standlicht zurücklegen zu können. Sie wählten die Stunden nach Mitternacht, weil dann am wenigstens Verkehr herrschte. Plutarco lag unter der Plane versteckt. Neal fuhr. Er klammerte sich ans Lenkrad, dicht an die Frontscheibe gedrück, um Schlaglöcher zu erkennen. Endlose Konzentration. Vorsicht. Sorge um den Falcon. Sorge, eine Straßensperre zu übersehen. Sorge, dass ein anderes Auto sie übersah und hinten auffuhr. Sie mieden Autobahnen und benutzten Landstraßen. Immer wieder gab es Polizeikontrollen und Straßensperren. Sie hatten den Polizeifunk eingeschaltet, um den Kontrollen frühzeitig auszuweichen. Wenn sie durch Städte oder Dörfer fuhren, multiplizierte sich die Gefahr.
Neals Augenringe wurden stündlich tiefer. Er bekam Muskelkater, so verkrampft klammerte er sich an sein Lenkrad.
In der ersten Nacht legten sie kaum fünfzig Kilometer zurück. In der zweiten Nacht jedoch zweihundert. Die ganze Zeit war ihnen die Polizei dicht auf. Zumindest fühlte es sich so an. Im Radio lief weiterhin die Fahndung nach ihnen. Der grüne Station. Personenbeschreibungen: Zwei indigene Männer, die einen indigenen Dialekt sprechen, einer ist offensichtlich Peruaner.

»Du brauchst dich in ganz Argentinien nie wieder sehen zu lassen«, warnte Neal. "Wie werden jeden, der dir auch nur ansatzweise ähnlich sieht, verhaften.«

»Und du?«, spöttelte Plutarco.

Ihre Route verlief von Rio Cuarto in Richtung Mendoza, zuerst mehr oder weniger parallel der Ruta 8, dann weiter entlang der Ruta 7 strikt in westlicher Richtung, ständig auf der Flucht vor der argentinischen Polizei. Die blieb allgegenwärtig und hatte offensichtlich nichts Anderes zu tun, als die beiden Kriminellen zu suchen, die mit einem grünen Caravan unterwegs waren. Glücklicherweise wussten sie nichts von der auffälligen, roten Fahrertür. Sie kannten auch nicht die weiß-graue Heckklappe, denn der Zeuge hatte den Falcon nur von vorne gesehen. Das und nur das rettete sie.

Neal und Plutarco kamen nur mühselig und langsam vorwärts, weil sie kaum Möglichkeiten hatten, sich wirklich zu verstecken. Wenige Straßen, das Land weit und flach. Viele Zaungäste, die Fremde argwöhnisch beäugten. Die Ausläufer der Sierra de Córdoba brachten zwar Hügel und Berge mit sich, doch menschenleer wie der Landstrich war, konnten sie sich kaum tarnen. Sie mussten unerkannt fahren, um keine Fragen beantworten zu müssen, die sie vielleicht nicht beantworten konnten. Jeder Halt bedeutete ein unnötiges Risiko. Ihre Fahrt blieb ein tödliches Spalier zwischen Polizeisperren und Verdachtsmomenten.

Neal fuhr alleine. Die Strecke raubte ihm seine noch vorhandene Konzentration. Dazu Angst, Stress. Jede Sekunde. Jede Luftspiegelung wurde zur nächsten Polizeisperre, jedes Blitzen zur Mündung gezückter Gewehre. Neal kam an die Grenzen seiner persönlichen Leistungsfähigkeit.

Fahndungsplakate folgten ihnen. Misstrauische Supermarktverkäufer und Tankwarte pflasterten ihren Weg. Wenigstens hatten sie genug Bargeld zu Bezahlen. Neal kaufte als amerikanischer Tourist in Supermärkten ein. Er fragte den Tankwart nach dem Weg wie nur ein amerikanischer Tourist fragen kann. Über dessen Kasse hing sein Ebenbild. Phantomzeichnung. Erschreckend gut getroffen. Er kaschierte seine Furcht hinter einem breiten Lächeln und zog seine Schirmmütze tiefer ins Gesicht.

»Who is that?«, fragte er offensiv.

»Dos criminales de Paraguay«, antwortete der Tankwart abfällig.

»Who? What? ¿Cuidado?«, fragte er unbedarft.

Der Tankwart zuckte nur mit den Schultern. Neal atmete auf. Die beste Tarnung ist keine Tarnung.

Im selben Maße wie ihr spärliches Erspartes stetig abnahm, nahm ihre Angst zu. Ihre Phantombilder wurden auch in den großen Tageszeitungen veröffentlicht, ihre Taten um ein Vielfaches verschlimmert. Weiterhin liefen Radiodurchsagen. Neal und Plutarco waren nicht mehr ruhig; sie hielten die Luft an und hörten nicht auf damit.

»Lassen wir den Falcon stehen«, mahnte Plutarco panisch. »Alleine kommen wir besser durch.«

Neal lachte ihn aus.

»Zu Fuß über die Grenze? Sollen wir in Linienbussen fahren oder trampen? Oder möchtest du lieber ein Flugzeug kapern?«, spöttelte er.

»Laut meiner Karte führt die Ruta 7 über die Anden nach Chile. Drüben verläuft sie als CH 60 weiter«, sagte Plutarco.

»Steht auf deiner Karte auch, ob sie uns an der Grenze mit hundert Soldaten erwarten, um uns gleich zu erschießen?«, grollte Neal.

Plutarco schaute Neal ratlos an und zuckte seine Schultern hoch.

»Fahren wir eben neben der Straße ... ich meine ... an der Grenze vorbei schleichen und über die Berge ...«

Es klang absurd, und Neal sah rot.

»Der Highway führt direkt über die Anden. Weißt du, wie hoch sie sind? Du kannst immer nur um die Berge fahren, weil oben drüber, das geht nur in netten Kinderzeichnungen«, fauchte er enerviert.

»Hast du eine bessere Idee?«

»Nein.«

»Na also. Es wird sich schon etwas ergeben. Fahren wir solange gen Süden, bis es flacher wird und wir ein Schlupfloch finden. Alles ist besser als hier verhaftet zu werden.«

»Wird es denn im Süden flacher? Kannst du nicht einmal auf der Karte schauen?«

***

Nahe der Grenze zu Chile

Sie waren mehr als zehn Tage unterwegs, bis sie die Grenze zu Chile erreichten. Sie schliefen kaum. Sie aßen hastig im Auto und doch kamen sie nicht von der Stelle, weil sie immer wieder warten und ausweichen mussten. Auch, weil sie sich immer wieder im Dunklen auf den kleinen Nebenstraßen verfuhren und im Nichts landeten. Umso nervöser sie wurden, umso schneller und häufiger passierte das. Als sie gar nicht mehr weiterkamen, entschieden sie sich für die Autobahn und für eine Fahrt am helllichten Tage. Neal fuhr. Plutarco versteckte sich liegend unter dem Wust an Gepäck, Decken und der Plane, die sie passend drapierten. Plutarco sah nichts von Argentinien. Neal auch nicht, denn er fixierte die Straßenränder und den Rückspiegel und er sah Straßensperren, wo keine waren, wie eine Fata Morgana immer wieder vor sich auftauchen.

Doch als das rettete sie nicht. Schließlich wurden sie wieder von der Polizei gestoppt. Neal zeigte seine amerikanischen Papiere vor: Ausweis, Fahrzeugpapiere, Führerschein. Er sah nicht aus, wie der Mann, den die Polizei suchte, er nicht, das Auto nicht. Außerdem sprach er fließend Englisch. Auch diese Polizeistreife war durch sein Auftreten geblendet.

»Hey Daisy! Daisy my dear! Don’t bark! These policemen take care of our security.«

»Please excuse the difficulties«, sagte Polizist.

Er durchmaß mit oberflächlichen Blicken den Innenraum und war stolz, ein gutes Englisch zu sprechen. Dann beschrieb er, dass sie zwei Straßenräuber suchten, die wahrscheinlich mit einem grünen Station unterwegs waren, die einen indigenen Dialekt und ein gebrochenes Spanisch sprachen.

»I am speaking a broken Spanish«, scherzte Neal und lachte über seinen eigenen Witz.

Dann erzählte er munter über Buenos Aires, wie schön er Argentinien wäre, dass er nach Feuerland wollte und dass alles ganz anders war als seine amerikanische Heimat. Plaudereien. Schließlich fuhr er weiter.

Keine fünfzehn Minuten später fuhr er an den Straßenrand, weil ihm vor Nervosität schlecht geworden war.

»Ich kann nicht mehr«, jammerte er völlig fertig.

»Du musst können, sonst hast du Jahre Zeit dich auszuruhen«, mahnte Plutarco.

Er schnaufte unter seinem Taschenturm mit einer Stimme, die klang, als käme sie aus einem Ofenrohr.

Gleich am nächsten Morgen hielt Neal an einer Einbuchtung, ließ Pimana laufen und vertrat sich die Beine. Müde träumte er vor sich hin. Die Landschaft war idyllisch. Die Ebene verlor sich im Bodennebel und einem leichten Morgenrot. Gelegentlich erhoben sich prachtvolle Bäume. Rinder grasten. Weit hinten die Schemen eines Bergzuges. Ein Polizeiauto fuhr vorbei. Als es den Falcon sah, bremste es abrupt, fuhr ruckartig rückwärts und bog ebenfalls in die Einbuchtung ein. Neal schrak zusammen. Trotzdem missachtete er die Aktion bewusst, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Stattdessen begann er wie selbstverständlich mit einer Gymnastik wie er sie aus der Schule und dem boot camp kennt: Auf der Stelle laufen, kreisende Armbewegungen, Kniebeugen.

Die beiden Polizisten gingen suchend um das Auto herum, musterten es, musterten den Innenraum und traten auf Neal zu. Er sah im Augenwinkel, dass sie ihre Hände nahe an ihren Waffen hatten; er versuchte es zu ignorieren; er versucht seine Panik zu kontrollieren.

»¿Vuestro Automóvil?«

Neal schaute kurz und unbeteiligt hoch.

»Good day«, lächelte er freundlich und joggte weiter auf der Stelle. »Yes! This is my car.«

Er ließ sich nur kurz bei seiner Gymnastik stören, wie ein Fahrer, der stets solche weiteren Strecken zurücklegt und die Entspannung im Sport sucht.

»¡Documentación del automóvil, permiso de conducir y PASAPORTE, por favor!«

»Passport? Driver’s license? Vehicle documents? Yes! Of course! One moment please.«

Neal joggte zurück und holte aus dem Auto seine Papiere, zeigte sie ihnen. Weiterhin ließ er die Arme kreisen und lächelte freundlich. Das Originalbild eines amerikanischen Touristen. Der Rest war nur eine Formalität. Noch als die Polizisten den Parkplatz verließen, sahen sie, wie Neal zur Liegestütze ansetzte. Erst als sie aus der Sichtweite waren, kehrte er zum Falcon zurück, holte sich zitternd den Tabak und drehte sich eine Zigarette.

»Du willst gar nicht wissen, was los war«, rief er Plutarco zu.

Er keuchte noch einmal und kämpfte ein zweites Mal gegen plötzliche Übelkeit. Selbst der Rauch seiner Zigarette schlug ihm auf den Magen.

»Du musst durchhalten«, wieder die Stimme aus dem Ofenrohr.

***

Kein Durchbruch

Ihre Versuche die Grenze zu passieren scheiterten, und sie entschieden sich um. In Mendoza trennten sie sich. Plutarco blieb mit seinem Militärrucksack zurück an dem wenig belebten Bahnhof. Er wollte sich mit dem Zug nach Chile durchschlagen. Neal wollte mit dem Falcon über die Autoruta nach Chile reisen.

»Treffpunkt Kathedrale von Santiago de Chile. Ist ja nicht das erste Mal«, verabschiedete sich Plutarco.

Neal brach auf, um mit Daisy alias Pimana als amerikanischer Tourist den Grenzbaum zu passieren. Noch im Rückspiegel sah er Bahnhof und Stadt kleiner werden. Ich, der amerikanische Vagabund. Yeah. Shoot the Freak? Live human target? Hoffentlich identifizieren sie Plutarco nicht im Zug. Wir brauchen Glück. Eine Gegenüberstellung würden alle Zweifel beseitigen. Jetzt und immer wieder.

Neal überlegte die Zeit wahlweise vor oder zurückzudrehen, doch so schnell seine Gedanken kamen, so schnell verdrängte er sie. Es galt jetzt konzentriert zu sein. Seinen Mut holte er aus der Vergangenheit denn die Gegenwart bot ihm keine Gelegenheit dazu. Die Schicksalsgrenze nach Chile. Das Gesetz der Serie? Es gibt viele Serien. Auch schlechte.

»Hi Daisy! Good luck«, sagte Neal.

Er kraulte Pimana, als er sich dem Grenzbaum näherte.

Ende der Leseprobe

Fußnoten:

1Zapoteco Yatzachi: Hallo Großvater Xihtla, hallo Großmutter Coya
2Zapoteco Yatzachi: Bis später!
3Quechua: Gute Reise
4Ein alter Ausspruch. Wenn Schurken in der Kirche Zuflucht suchten, mussten sie ihren Namen nennen. Das wollten sie nicht. Also nannten sie sich Iglesia ... sin nombre
5Quechua: Das Jüngste Gericht
6Quechua: Nicht anfassen! Lass es!
7Quechua: Ich
8Quechua: Nicht anfassen! Lass es!
9Quechua: Das Jüngste Gericht
10Spanisch: Geld oder Blei. Ausdruck der Erpressung. Der Gegner hat die Chance, Schweigegeld anzunehmen oder getötet zu werden.
11Quechua: Nicht anfassen! Lass es! Ich!
12Quechua: Nicht anfassen! Lass es!
13Quechua: Kein Weg
13Span.: Flüchtlinge

Anmerkungen

📜 Die Übersetzung der Fußnoten 1 und 2 sind aus dem Diccionario Zapoteco de Yatzachi von INEZ M. BUTLER H. und wurden vom El Instituto Lingüístico de Verano und SIL zur Verfügung gestellt. Die Lizenz ist unter „FAIR USE”. Vielen Dank!

Alle im Buch befindlichen Handlungen, Namen und Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, Namen oder Handlungen sind unbeabsichtigt und rein zufällig. Städte und Landschaften beugen sich der Fiktion.

Çaçañan

heißt übrigens etwas wie: »Einer, der von Gefahren eingekesselt ist«. Der Begriff stammt aus der Andensprache Quechua von den First Nations in Peru. 📓 Die Übersetzung ist aus dem Vocabulario de la Lengua Qquichua, einem Werk von Diego GONÇÁLES HOLGUIN aus dem Jahre 1607. Das gemeinfreie Werk ist aus dem Internet Archive. Vielen Dank!